Wolkentaenzerin
sie noch eine Woche Urlaub.
Als Chris Südostasien erwähnte, erschrak Kate zunächst. Er war schon viele Male dort gewesen, allerdings nicht im vergangenen Jahr. Sie wusste, was in der letzten Zeit in der Region vorgefallen war. Jeder, der das politische Geschehen verfolgte, wusste das. Überall in den Nachrichten wurden Städte zu Stecknadelköpfen reduziert, die rot auf Landkarten aufleuchteten, täglich wurden weitere Terrorzellen und Trainingslager aufgedeckt. Als sie ihre Sorge Chris gegenüber erwähnte – munter, wie eine Parodie ehelicher Besorgnis –, hatte er ihr versichert, dass er nicht in diese Gegend fuhr.
Es war normal, sich Sorgen zu machen. Doch Kate war sich auch bewusst, dass sie im Laufe des letzten Jahres das Maß verloren hatte, welche Reaktion normalerweise in solchen Situationen angebracht war. Sie sah Chris auf Plätzen und Märkten, an Orten, die Zielscheibe für verzweifelte und hasserfüllte Männer und ihre Taten waren. Falls er sich zur falschen Zeit am falschen Ort befand, wäre auch er in Gefahr. Man würde seine Brieftasche am Straßenrand finden, sein Pass wäre zerfetzt, und die Fotos ihrer Kinder lägen auf der Straße verstreut und am Rand verkohlt.
Kate stand auf und kletterte in die Dachkammer, um sich die Truhe anzusehen. Wie ein Tadel ihrer Nachlässigkeit kauerte sie in der Mitte des Zimmers. Warum hatte sie den Schlüssel in ihrem Portemonnaie aufbewahrt? Sie hockte sich hin, um das Schloss zu untersuchen. Es war aus Metall, stumpf braun angelaufen. Das klassische alte Schlüsselloch bestand aus einer kleinen runden Öffnung über einem winzigen Schlitz.
Kate stieg die Leiter wieder hinunter, um etwas aufzustöbern, das sie als Werkzeug benutzen könnte – eine Haarspange von Piper, eine Büroklammer, ein Nagelknipser mit ausklappbarer Feile. Sie probierte sie alle am Schloss aus, jedoch ohne Erfolg. Sie waren zu breit, um vollständig durch den Schlitz zu passen. Kate erinnerte sich an den kleinen Schlüssel, der zu ihrer Dachbox vom Auto gehörte, und holte ihn aus einer Schale mit Kleingeld, die auf Chris’ Kommode stand. Sie sah sofort, dass er auch zu breit war. Kates Blick fiel auf das Foto neben der Schale, das Chris auf Reisen immer mitnahm, das, auf dem sie im Studio über ein fallengelassenes Soufflé lachte. Sie zögerte und fragte sich, was es zu bedeuten hatte, falls es überhaupt irgendetwas bedeutete, dass er es dieses Mal nicht eingepackt hatte.
Sie stieg wieder in die Dachkammer hoch zur Truhe. Falls die Schlosser auf der Insel ihr nicht helfen konnten, fand sie vielleicht ein Unternehmen, das noch winzige Schlösser und Schlüssel für Truhen herstellte. Doch schon während sie darüber nachdachte, wusste sie, dass sie weder die Zeit noch die Geduld dazu hatte. Letztendlich würde sie die Truhe aufbrechen, egal wie.
Sie kniete sich hin und sah aus dem Fenster. Drinnen auf der Fensterbank stand das Tagebuch, auf dem Elizabeth in der Sonne lächelte. Auf der Chaiselongue lag das gestreifte Notizbuch. Zwei Bücher, die nicht in der Truhe waren.
Das Fliegengitter schlug mit einem dumpfen Knall hinter ihr zu.
»Ich bin da«, rief sie Richtung Küche und legte ihre Tasche hinter den Tresen.
»Das wird auch Zeit.« Max’ Stimme ertönte hinter dem Vorhang. »Ist dir eigentlich klar, wie viele Tartes wir für die Dinnerparty machen müssen?«
Kate schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und stellte sich ans Fenster, das auf die Terrasse hinausging. Am größten Tisch saßen drei Männer mit Kaffee und Donuts. Ihre Golfschuhe lagen auf einem Haufen auf einer Bank neben ihnen.
»Leute aus Hollywood«, brummte Max in der Küche. »Die bestellen zwei verschiedene Tartes, doppelt so viele, wie sie eigentlich brauchen, damit ihnen keine Sorte ausgeht. Und dann sind sie noch so dreist zu fragen, ob sie die übriggebliebenen zurückgeben können.«
Das Handy einer der Golfer klingelte. Er sah auf das Display, grinste und drückte den Anrufer weg.
»Oh nein, du wohl eher nicht«, kommentierte er. »Nicht jetzt.«
Kate sah ihm zu, wie er das Telefon weglegte und sich in seinem Stuhl zurücklehnte. Einer seiner Freunde lachte. Sie kämpfte gegen den Drang an, hinauszugehen und ihm zu sagen, er solle an sein verdammtes Telefon gehen, man wisse nie, warum jemand anrief. Sie wandte sich vom Fenster ab und ging durch den Vorhang in die Küche.
»Tut mir leid, dass ich zu spät bin. Ich musste jemanden für die Kinder organisieren. Chris ist nach Kambodscha
Weitere Kostenlose Bücher