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Wolkentöchter

Wolkentöchter

Titel: Wolkentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xinran
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mit drei Kindern im Schlepptau: »Haben Sie je ein neugeborenes Mädchen erledigt?« Zuerst dachte ich, die Frage hätte irgendwas mit Kinderbetreuung oder Hausarbeit zu tun …
    »Wie bitte? Ein neugeborenes Mädchen ›erledigt‹? Was soll denn das heißen?« Ich dachte, ich hätte den regionalen Dialekt wieder mal missverstanden.
    »Sie als Frau wissen nicht mal, wie man ein Mädchen erledigt?« Sie war ebenso verwirrt wie ich. »Aber was machen Sie denn dann, wenn Sie ein Mädchen zur Welt bringen? Haben sie andere, die das für sie machen, oder was?«
    »Ich, äh … ich habe keine Tochter.« Ich wusste noch immer nicht, was sie meinte.
    »Ein neugeborenes Mädchen erledigen heißt, es gleich nach der Geburt beseitigen«, erklärte der Ortspolizist, der mich begleitete, hilfsbereit.
    »Was? So ein kleines Mädchen töten? Aber warum denn?« Jetzt war ich vollends durcheinander.
    »Wenn eine Frau nicht nur Jungen zur Welt bringt, muss sie jedes neugeborene Mädchen erledigen. Macht sie das nicht, würde ihr die Familie des Mannes das niemals verzeihen. Die würde ihr das Leben zur Hölle machen. Sie würde Prügel beziehen und nie genug zu essen bekommen.« Die Frau war sichtlich perplex, dass es Frauen auf der Welt gab, die nicht wussten, dass neugeborene Mädchen zu »erledigen« waren.
     
    Im Laufe der Jahre unternahm ich viele Reisen durch ganz China, um Material für Sendungen zu sammeln, und dabei stellte ich fest, dass die alte Dorfsitte, Mädchen gleich nach der Geburt zu töten, in Provinzen wie Henan, Shandong, Anhui, Jiangxi, Hunan, Shaanxi, Shanxi und dem nördlichen Jiangsu überaus verbreitet war. Die Bezeichnungen variierten schon mal je nach Region, ebenso die Methoden, die Babys zu entsorgen, aber Tatsache blieb, dass dieser grausame Brauch ganz selbstverständlich zum Leben einer Frau gehörte, genau wie die Bäuerin gesagt hatte. Ich war fassungslos, dennoch wollte ich wissen, ob die Mütter, für die diese Praxis normal war, ihre Töchter tatsächlich so beiläufig erstickten, wie sie eine Mahlzeit aßen oder ein verfaultes Stück Obst wegwarfen. Und natürlich taten sie das nicht. Viele sagen, dass eine Frau, die ihr Baby hergibt, ein Herz aus Stein haben muss, aber alles, was ich sah und hörte, verriet mir, dass dem mit nur ganz wenigen Ausnahmen nicht so war. Diese Frauen liebten ihre Babys genauso sehr, wie andere Mütter ihre Babys lieben. Wie eine Fünfzigjährige in Shandong einmal zu mir sagte: »Jede Frau, die ein Kind geboren hat, musste Schmerzen erleiden, aber die Mütter von Mädchen haben alle ein gebrochenes Herz.«
    Ich bin dieser Frau 1989 begegnet, als ich für eine Reportage in der Gebirgsregion Yimeng in der Provinz Shandong unterwegs war. (Die Dörfer im Yimeng-Gebirge sind sehr abgeschieden und die Straßen schlecht. Die Menschen dort haben kaum Produkte, die sich nach außen verkaufen lassen, und somit auch kein Geld, um irgendetwas einzukaufen. Während des Krieges gegen Japan und während des Befreiungskrieges schlossen sich fast zweihunderttausend Einheimische der Volksbefreiungsarmee an, und nahezu jede Familie verlor einen Angehörigen. Dennoch herrscht weiterhin extreme Armut. Da es keine Bodenschätze gibt und keine effektiven staatlichen Maßnahmen ergriffen wurden, verfügte die Hälfte der Menschen in den Dörfern noch in den 1990 er Jahren über ein durchschnittliches Nettojahreseinkommen von weniger als zweihundert Yuan, was 2009 etwa zweiundzwanzig Euro entsprach. Damit leben hier mehr Familien unter der Armutsgrenze als in den meisten anderen Gegenden Chinas.) Unsere Gruppe bestand aus vier Personen, und wir waren zum Abendessen in das Haus eines Dorfvorstehers eingeladen. Als wir auf den Hof kamen, zeigte er auf einen groben weißblauen Stoffstreifen, etwa fünf Zentimeter breit und zwanzig Zentimeter lang, der über dem Eingang im Wind flatterte. »Das zeigt den Menschen, dass die Familie ein Baby bekommt und nicht gestört werden will.«
    Der kleine Hof dieser Bauernfamilie sah aus wie die meisten in der Gegend. Auf drei Seiten wurde er von niedrigen Lehmgebäuden umschlossen. Die Wohnräume der Eltern lagen in der Mitte mit Blick auf das Tor, der verheiratete Sohn hatte ein Innen- und ein Außenzimmer auf der rechten Seite, während die Zimmer der unverheirateten Kinder links lagen, zusammen mit dem Lagerraum für landwirtschaftliche Geräte und Tierfutter. Nur die Eltern hatten eine Küche, einen großen Raum gleich neben dem Schlafzimmer, wo alle

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