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Wolkentöchter

Wolkentöchter

Titel: Wolkentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xinran
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Familienmitglieder aßen. Küchenutensilien und andere Gerätschaften lagen auf dem Boden gestapelt. Der einzige Tisch war etwa einen Quadratmeter groß und bot nicht genug Platz für die rund ein Dutzend Stühle unterschiedlicher Größe. Tatsächlich ist es den Menschen in den armen Bergregionen Chinas meist zu lästig, einen Tisch zu benutzen. Sie hocken sich einfach hin und halten eine Schale mit dünner Suppe, ein trockenes Stück Fladenbrot und irgendein eingelegtes Gemüse zusammen in einer Hand. Meistens gibt es keine anderen Gerichte, die man auf den Tisch stellen könnte.
    Wir hatten kaum in der Küche Platz genommen, als wir hörten, wie im Schlafzimmer jemand vor Schmerzen stöhnte. Die Frau des Dorfvorstehers, diejenige, die mir erklärt hatte: »Jede Frau, die ein Kind geboren hat, musste Schmerzen erleiden, aber die Mütter von Mädchen haben alle ein gebrochenes Herz«, sagte höflich: »Hören Sie nicht hin. Meine Schwiegertochter liegt in den Wehen. Lassen Sie uns essen!«
    »Kann ich vielleicht helfen?«, bot ich ebenso höflich an.
    »Nein, nein, das geht doch nicht, dass sich Kader aus der Stadt hier die Hände schmutzig machen! Bitte essen Sie! Leider ist es nur ein bescheidenes Bauernessen, Yam-Pfannkuchen mit gebratenen Eiern. Die Mehlteigsuppe ist auch gleich fertig, dann bringe ich sie Ihnen. Bitte, greifen Sie zu! Die Hebamme ist da, und ich habe Wasser aufgesetzt, aber ich weiß nicht, ob sie es jetzt schon braucht.«
    Ich hatte damals erst wenige Dörfer bereist, und mir war nur allzu bewusst, wie wenig ich über die jeweiligen Bräuche wusste, ganz zu schweigen von den Dialekten der Region, die sich von Dorf zu Dorf stark unterschieden. Ich muss gestehen, dass ich die Frau nur halbwegs verstand. Was waren Yam-Pfannkuchen und Mehlteigsuppe? Wofür machte sie Wasser heiß? Und warum wusste sie nicht, ob es benötigt wurde?
    Einer der Polizisten, die uns begleiteten, sah mir an, dass ich weitere dumme Fragen stellen wollte, also drückte er mich auf einen Stuhl in der Ecke und raunte mir zu: »Hier laufen die Dinge anders. Stellen Sie keine Fragen mehr, sonst krieg ich Ärger mit meinen Vorgesetzten!« Sobald ich den Satz »Hier laufen die Dinge anders« gehört hatte, traute ich mich nicht mehr, noch irgendetwas zu sagen. In China ändern sich nicht nur die Dialekte von Dorf zu Dorf, nein, man trifft auch laufend auf ganz unterschiedliche Gebräuche. Es kann leicht passieren, dass man ungewollt und in bester Absicht gegen irgendwelche regionalen Tabus verstößt.
    Die Schreie aus dem Nebenraum wurden lauter – die Frau ertrug die Schmerzen tapfer. Ich hörte eine andere Frauenstimme, die fast so etwas wie Putonghua sprach. (Also Standardchinesisch, nicht Dialekt. Hebammen reisten von Dorf zu Dorf und mussten sich daher auf Putonghua verständigen.) »Das Köpfchen ist zu sehen. Tief atmen! Und jetzt pressen!« Schon allein bei diesen Worten brach mir der Schweiß aus. Ich bin Mutter und ich fühlte mit. Wahrscheinlich hatte die Frau jetzt das Gefühl, lieber sterben zu wollen. Plötzlich steigerten sich die Laute zu einem Crescendo – und hörten jäh auf. Ein leises Schluchzen war zu hören, und dann sagte eine Männerstimme vorwurfsvoll: »Unbrauchbares Ding!«
    Die beiden Polizisten rechts und links von mir konnten sich offenbar denken, was mir durch den »aufgeklärten« Städterinnenkopf ging, und hielten mich in der Ecke fest, in der ich saß. Hinter mir standen ein abgedeckter Klosetteimer und ein paar übel riechende Gefäße mit Tierfutter. Ich verstand nicht, was in dem anderen Zimmer vor sich ging. Normalerweise hätten wir doch jetzt das Baby schreien hören müssen. Aber kein Laut ertönte. Der Dorfvorsteher und seine Frau blickten beschämt, um nicht zu sagen regelrecht niedergeschlagen.
    Kurz darauf kam ein ungefähr zwanzigjähriger Mann mit hängendem Kopf heraus, holte eine Schale Mehlteigsuppe und ging wieder hinein. Während ich ihm noch hinterherschaute, hörte ich neben mir in der Ecke ein gepresstes Wimmern, und als ich den Kopf wandte, sah ich eine Frau, bei der es sich offensichtlich um die Hebamme handelte, die sich gerade die Hände an ihrer Schürze abwischte. Der Dorfvorsteher reichte ihr einen kleinen Umschlag mit ihrem Lohn, und sie eilte davon.
    Plötzlich meinte ich, in dem Klosetteimer hinter mir eine schwache Bewegung zu hören, und ich blickte automatisch dorthin. Mir gefror das Blut in den Adern. Zu meinem unbeschreiblichen Entsetzen sah ich ein

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