Wolkentöchter
bekommt besonders nahrhafte Kost. Mutter und Kind dürfen nicht ins Freie, weil sie dort Kälte, Wind und Viren ausgesetzt sein könnten, und die Mutter sollte weder baden noch duschen, um sich nicht zu erkälten.) Er enthielt eine Vermisstenanzeige, die die Hochschule erstattet hatte, und einen Brief, in dem die Schule erklärte, Waiter sei zwangsexmatrikuliert worden, weil sie den Brief gefälscht hatte, in dem von der Krankheit ihres Vater die Rede war. Dazu einige Briefe von ihren Eltern, die zunächst besorgt fragten, wo sie war, und schließlich sowohl der Hochschule als auch ihr mitteilten, dass sie sie verstießen.
Sie war also nicht nur von der Hochschule geflogen, weil sie gelogen hatte, sondern sie hatte noch dazu Schande über ihre Eltern gebracht, die nichts mehr mit ihr zu tun haben wollten, weil es ihnen wichtiger war, »das Gesicht zu wahren«. Der einzige Mensch, der ihr nun noch blieb, war ihre vier Wochen alte Tochter.
Mit ihrer Tochter im Arm las Waiter die Briefe unter Tränen. Als sie sich ausgeweint hatte, sagte die Putzfrau zu ihr: »Lassen Sie die Kleine bei meinen Eltern! Sie werden sich um sie kümmern. Auf sich allein gestellt, ohne Ehemann oder Familie, wie wollen Sie da zurechtkommen?«
»Nein, das wäre zu selbstsüchtig von mir. Ihre Eltern haben mir schon so viel geholfen, ich kann sie nicht auch noch darum bitten. Wenn es ein Junge geworden wäre, hätten sie ihn behalten können, und er hätte der Familie genützt. Aber Mädchen gelten ja nichts. Außerdem sind Ihre Eltern nicht mehr die Jüngsten, und sie arbeiten noch immer fast rund um die Uhr, um existieren zu können und ein bisschen fürs Alter zurückzulegen. Ich kann ihnen keine weitere Belastung mehr zumuten.«
Und so nahm Waiter die kleine Mei, die damals erst sechs Wochen alt war, und folgte dem Menschenstrom, den Deng Xiaopings Wirtschaftsreformen in Gang gesetzt hatten, hinunter in den Süden nach Guangdong. Dort, weit weg von ihrer Familie und den Erinnerungen an die Vergangenheit, hoffte sie, neu anfangen zu können.
Die Wirklichkeit sah jedoch genauso aus, wie die Putzfrau prophezeit hatte: Für eine Frau ohne Ehemann oder Angehörige, noch dazu mit einem Baby belastet, war es unmöglich, Arbeit zu finden. In den Wohnheimen der großen Fabriken schliefen die Frauen zu siebt oder acht in einem Raum. Sie hatten kaum genug Zeit, um sich von der schweren Arbeit und den Überstunden zu erholen. Ein unruhiges, weinendes Baby mit im Schlafsaal zu haben war ein Ding der Unmöglichkeit. Und Waiter konnte auch keine eigene Unterkunft mieten, weil keine Tagesmutter bereit gewesen wäre, mit Mutter und Kind gemeinsam in einem winzigen Zimmer zu hausen. Inzwischen waren ihre Ersparnisse beinahe aufgebraucht, und sie hätte es sich niemals leisten können, ein zusätzliches Zimmer für eine Tagesmutter zu bezahlen.
Eine Zeitlang versuchte sie, trotzdem irgendwie über die Runden zu kommen, doch schließlich konnte sie sich nichts mehr vormachen: Ihre Tochter wurde immer dünner und schwächer. Als letzten Ausweg beschloss sie, Mei vor der Tür eines Waisenhauses in Guangzhou, der Provinzhauptstadt von Guangdong, auszusetzen. Sie hoffte, dass die Kinderfürsorge sich der Kleinen annehmen würde. Sie versteckte sich ein Stück entfernt und wartete, bis sie sah, dass das Baby von einer Mitarbeiterin gefunden wurde. Sie hoffte, ihre Tochter noch ein letztes Mal weinen zu hören, doch Mei gab keinen Laut von sich. Konnte es sein, dass dieses kleine Mädchen schon so viel verstand, dass es seiner Mutter noch mehr Kummer ersparen wollte?
Sobald ihre Tochter hinter der Tür des Waisenhauses verschwunden war, hastete Waiter zum Bahnhof, wusste sie doch, dass sie sonst Gefahr lief, gegen die Tür zu trommeln und ihre Tochter zurückzuverlangen. Im Bahnhof hockte sie in einer Ecke des Wartesaals und weinte untröstlich. Ein paar Leute scharten sich besorgt um sie, verliefen sich aber dann allmählich wieder und überließen sie sich selbst. Mit dem milchbefleckten Lätzchen ihrer Tochter in der Hand stieg sie in einen Zug nach Zhuhai.
Vier Monate später fand sie endlich einen festen Arbeitsplatz. Sie fuhr mit dem Nachtzug zurück nach Guangzhou und eilte zu dem Waisenhaus – das, wie sie feststellen musste, mitsamt ihrer Tochter verschwunden war. Übrig war nur noch ein Haufen Schutt. Das Gebäude, so erfuhr sie, war abgerissen worden, das Waisenhaus geschlossen.
Geschlossen? Was war mit den Kindern? Niemand wusste es. Wie von
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