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Wolkentöchter

Wolkentöchter

Titel: Wolkentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xinran
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winziges Füßchen aus dem Eimer ragen. Ich konnte nicht begreifen, was ich da sah. Und dann zuckte das Füßchen. Das war unmöglich. Die Hebamme musste dieses winzige Baby lebend in den Klosetteimer gesteckt haben! Ich wollte hinstürzen, doch die beiden Polizisten hielten meine Schultern fest umklammert. »Nicht bewegen! Sie können es nicht retten, es ist zu spät.«
    »Aber das ist … Mord … Und Sie sind Polizisten!« Ich war fassungslos.
    Wir saßen stumm da, und ich starrte erschüttert auf den Eimer. Es war, als wäre alles um mich herum zum Stillstand gekommen. Das Füßchen bewegte sich nicht mehr. Die Polizisten hielten mich noch ein paar Minuten fest.
    »Kommen Sie, wir rauchen im Hof eine Pfeife! Hier drin riecht es nach Blut«, sagte der Dorfvorsteher schließlich und zog die Polizisten mit nach draußen. Sie ließen mich los und gingen mit ihm. Jetzt waren nur noch die Frau des Dorfvorstehers und ich im Raum, und im Nebenzimmer die Frau, die gerade niedergekommen war, zusammen mit dem jungen Mann, der ihr Suppe gebracht hatte. Aber ich konnte mich nicht bewegen.
    »Ein neugeborenes Mädchen zu erledigen ist bei uns in der Gegend ganz normal. Ihr Städter seid entsetzt, wenn ihr das zum ersten Mal seht, hab ich recht?«, sagte die ältere Frau tröstend. Offensichtlich sah sie mir meine Verstörung an.
    »Das ist ein lebendiges Kind!«, sagte ich mit zitternder Stimme und zeigte auf den Klosetteimer. Ich stand noch immer so unter Schock, dass ich mich nicht traute aufzustehen.
    »Es ist kein Kind«, widersprach sie.
    »Was soll das heißen, es ist kein Kind? Ich hab’s gesehen!« Wie konnte sie mir so dreist ins Gesicht lügen?
    »Es ist kein Kind«, unterbrach sie mich. »Wenn es eins wäre, würden wir uns ja wohl drum kümmern. Es ist ein Mädchen, und wir können es nicht behalten.«
    »Ein Mädchen ist kein Kind, und Sie können es nicht behalten?«, echote ich verständnislos.
    »Hier bei uns kann man ohne Sohn nicht überleben. Dann hast du niemanden, der vor dem Schrein der Ahnen Weihrauch opfert. Aber das ist es nicht allein. Du bekommst auch kein zusätzliches Land. Wenn deine Kinder nur essen und nichts einbringen, wenn du kein Land und kein Getreide hast, dann kannst du gleich verhungern.« Sie sah mich an und fügte hinzu: »Ihr Leute in der Stadt, ihr bekommt Essen vom Staat. Hier bei uns richten sich die Getreiderationen danach, wie viele Köpfe eine Familie hat. Mädchen zählen nicht. Die zuständigen Beamten geben uns kein zusätzliches Land, wenn ein Mädchen geboren wird, und so knapp, wie das Ackerland ist, würden die Mädchen sowieso verhungern.«
    Das war 1989 , und bis dahin hatte ich nicht gewusst, dass ein zweitausend Jahre altes Landverteilungssystem in chinesischen Dörfern noch im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert angewendet wurde. Und ich wusste erst recht nicht, dass so viele neugeborene Mädchen aufgrund dieses Systems ihr Recht auf Leben verloren hatten.
    »Jede Frau, die ein Kind geboren hat, musste Schmerzen erleiden, aber die Mütter von Mädchen haben alle ein gebrochenes Herz«, sagte die Frau des Dorfvorstehers und brachte eine weitere Schale Mehlteigsuppe in das Schlafzimmer.
    Ich konnte mich nicht vom Fleck rühren, saß stumm da und starrte auf diesen Klosetteimer und das winzige Leben darin, das, kaum geboren, schon ausgelöscht worden war. So schnell, und so allein. Nur weil es ein Mädchen war. »Die Mütter von Mädchen haben alle ein gebrochenes Herz.« Diese Worte sind mir im Laufe der Jahre immer wieder durch den Kopf gegangen. Und die Erinnerung an das kleine, zuckende Füßchen hat mich oft im Traum heimgesucht … Hätte ich das Mädchen retten können?
     
    Etwa zwei Jahre später kam ein junges Bauernpaar in den Sender, um mich zu sprechen. Sie wollten in der Stadt arbeiten und erzählten mir, dass sie die Eltern des Babys seien, das damals in dem Dorf im Yimeng-Gebirge in den Klosetteimer geworfen worden war. Die Frau hatte ich nie zu Gesicht bekommen, aber den Mann erkannte ich wieder. Er war derjenige gewesen, der aus dem Schlafzimmer gekommen war, um seiner Frau eine Schale Suppe zu holen. Zwei Jahre Plackerei auf dem Land hatten ihn um mindestens zehn Jahre altern lassen. Ich lud die beiden zum Mittagessen in ein Nudelrestaurant ein, und dann zog der Mann los, um sich für einen Job anzumelden. Ich blieb bei seiner Frau, und wir unterhielten uns eine Weile.
    Sie wirkte angespannt, und damit ihr das Reden leichter fiel, fragte ich sie

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