Wolkentöchter
ersehnten Informationen liefern könnten.
Doch kein einziger der vielen hundert Briefe, die ich nach der Sendung bekam, enthielt irgendeinen Hinweis, der ihr weiterhelfen konnte.
Vielleicht sollte ich das meinen Lesern vorenthalten, aber, um ehrlich zu sein, die meisten Reaktionen auf Waiters Schicksal waren mitleidlos. Man verhöhnte sie, verurteilte sie, und manche äußerten sogar ihre Verwunderung darüber, dass sie so schamlos war und der Welt von ihrem »Hurenverhalten« erzählt hatte.
Ich glaube nicht, dass diejenigen, die ihr Vorhaltungen machten, unfähig waren, Mitgefühl zu empfinden. Aber ich denke, die traditionellen kulturellen Werte Chinas, denen sie ihr Leben lang ausgesetzt waren, hatten ihr Wesen als Mensch verändert. Die »Gebote«, die das Leben vieler Menschen beherrschten, hatten ihnen die normalen menschlichen Instinkte praktisch herausoperiert, so dass sie nicht mehr in der Lage waren, Liebe zu erkennen.
Unser Verständnis von Gegenwart und Zukunft hängt davon ab, was wir in der Vergangenheit erlebt haben.
In den ersten zwei Jahren, nachdem ich allein nach London gegangen war, zog es mich an jedem Wochenende magnetisch in ein McDonald’s-Restaurant in der Nähe meiner Wohnung, weil sich dort lärmende Kinderscharen tummelten. Ich hatte Panpan bei meinen Eltern in Nanjing gelassen, zunächst, weil ich herausfinden wollte, ob ich mir eine Zukunft im Westen vorstellen konnte, und dann, weil ich mir in London eine Lebensgrundlage schaffen wollte. Es gab keinen Tag, an dem ich ihn nicht schmerzlich vermisste. Und wenn ich sehnsüchtig an den Sohn dachte, den ich nicht hatte mitnehmen können, hallte mir die gequälte Stimme jener Mutter in den Ohren:
Wie geht es dir, Kleines? Weißt du, dass deine Mutter, die Frau, die dir das Leben geschenkt hat, an dich denkt? Du hast aus ihren Brüsten nicht nur Milch gesaugt, sondern auch die Seele deiner Mutter. Wo bist du? Dein Verschwinden hat meine Erinnerungen zu einem Gefängnis gemacht. Komm zurück zu mir! Komm zu mir, über die Grenzen der Zeit hinweg, und lass mich dein Gesicht berühren, lass mich sehen, dass du lebst und frei bist!
Aber mir war weit mehr Glück beschieden als Waiter. Zwei Jahre nach meinem Fortgang aus China konnte ich meinen Sohn Panpan wieder in die Arme schließen und wurde aus der Hölle meiner eigenen Sehnsucht befreit.
Bis heute weiß ich nicht, ob Waiter ihrem Freund je die Wahrheit erzählt hat. Und falls die beiden geheiratet haben, hat ihr Ehemann dann je den Menschen entdeckt, zu dem seine Frau in ihren Alpträumen wurde? Falls ja, haben die beiden den Mut gefunden, diese Tochter offen anzuerkennen? Damit hätten sie nicht nur gegen gesellschaftliche Normen verstoßen, die Ein-Kind-Politik würde es ihnen darüber hinaus unmöglich machen, je ein gemeinsames Kind zu bekommen. Die »leidende« Mutter könnte sogar von ihrem Arbeitgeber bestraft werden. Niemand in ihrer Umgebung würde sie je wieder respektieren, ganz gleich, was für ein wertvoller Mensch sie war. Wie viele chinesische Frauen waren im Laufe der Jahrhunderte auf diese Weise zerstört worden?
Das ist der Grund, warum ich nach jener Sendung immer an diese Frau denken musste, wenn ich Enyas Musik hörte. Wahrscheinlich wartet Waiter noch immer auf ihre Tochter, die jetzt über zwanzig sein muss, ungefähr in dem Alter, in dem ihre Mutter war, als sie sie zur Welt brachte. Alte Menschen in China sagen, man weiß nie, wie sehr einen die eigenen Eltern geliebt haben, ehe man selbst ein Kind hat. Ob Waiters Tochter die Gefühle ihrer Mutter jetzt verstehen kann? Wahrscheinlich ist ihr nie gesagt worden, wer sie wirklich ist und woher sie kommt.
Ich habe Waiter nie vergessen. Sie ist nicht nur in Enyas melancholischer Musik für mich gegenwärtig; sie und ihre Geschichte haben mich mit einer neuen Frage konfrontiert, die mir seitdem keine Ruhe lässt: Werden jetzt, wo China so viele dramatische Veränderungen durchlaufen hat, Frauen, die aus Gründen der Tradition gezwungen waren, ihre Babys wegzugeben, die Chance erhalten, sie wieder in die Arme zu schließen?
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»Die Mütter von Mädchen haben alle ein gebrochenes Herz«
Aber eines möchte ich Sie fragen. Können Sie mir sagen, wie ich einen Jungen bekommen kann?
I m Jahr 1989 besuchte ich zum ersten Mal eine sehr arme Region, die ungefähr am Mittellauf des Gelben Flusses an dessen Nordufer liegt. Als ich die dortigen Bauern interviewte, fragte mich eine etwa dreißigjährige Frau
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