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Wolkentöchter

Wolkentöchter

Titel: Wolkentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xinran
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einen Sohn bekommen und dann wieder nach Hause gehen, aber es waren beide Male Mädchen. Mein Schwiegervater hat jemanden gefunden, der die Babys in den Süden gebracht hat, und er hat uns erzählt, sie wären von Ausländern adoptiert worden.« Noch immer blickte sie nicht auf.
    »Wissen Sie, was für Ausländer das waren?« Diese Bauern wussten darüber Bescheid, wir Journalisten aber hatten noch nie davon gehört, daher wollte ich unbedingt mehr erfahren. Offiziell fanden die ersten Auslandsadoptionen von chinesischen Kindern 1993 statt, doch schon 1990 redeten die Wanderarbeiter aus dem Süden Chinas darüber. Es wurde stets gemunkelt, dass es schon vor 1993 Auslandsadoptionen gab, doch die Regierung dementiert das bis heute.
    »Ich weiß nicht. Mein Schwiegervater hat gesagt, es wären Ausländer mit bunten Augen (d.h. blaue, grüne oder braune Augen) und langen Nasen gewesen. Das klingt gruselig, meine Töchter haben bestimmt furchtbare Angst. Haben Sie schon mal Ausländer gesehen?« Sie blickte erwartungsvoll zu mir hoch.
    »Ja, hab ich, in Büchern, auf Bildern und auf der Straße. Die meisten Ausländer sind gute Menschen, und sie mögen Kinder«, sagte ich so aufmunternd wie möglich.
    »Meine Töchter waren liebe Kinder. Die Älteste war noch den ganzen Geburtsmonat bei mir. Sie hat so gut getrunken, war ganz verrückt nach ihrer Milch. Ich weiß nicht, ob ihr die Milch der Ausländerin auch so gut geschmeckt hat. Die zweite ist gleich nach drei Wochen abgeholt worden, weil eine Ausländerin schon auf sie gewartet hat. Das ging alles so schnell, ich hatte nicht mal Zeit, den Leuten, die sie geholt haben, zu sagen, dass sie am besten schläft, wenn man sie auf dem linken Arm hält. Meinen Sie, diese Ausländer wissen, wie mein Baby gehalten werden muss? Für das Baby, das erledigt wurde und tot ist, kann ich nichts mehr tun, aber die nächsten beiden leben, und ich mach mir solche Sorgen um sie. Mir tut immer der Kopf weh, wenn ich an sie denke. Mein Mann sagt, ich hätte ein gebrochenes Herz.« Bei diesen Worten schlug sie die Aufschläge ihrer Jacke zusammen, als versuchte sie, den Herzschmerz darunter zu lindern.
    »Ausländer sind wie Sie und ich, sie wissen, was Kinder brauchen. Frauen haben überall auf der Welt einen Mutterinstinkt, innerlich sind wir alle wie Guanyin« (die buddhistische Göttin des Mitgefühls). Die arme Frau wusste nicht, wohin mit ihrer Angst, und das war der einzige Trost, der mir einfiel.
    »Mutterinstinkt? Was ist das?«, fragte sie. Dann sprach sie rasch weiter: »Ich kann nicht lesen und schreiben. Aber ich bin hergekommen, weil ich dachte, dass ich vielleicht den Ausländern begegne, die meine Töchter adoptiert haben. Außerdem hab ich gehört, dass die Leute in der Stadt wissen, wie man einen Jungen bekommt. Ich dachte, das könnte ich vielleicht auch lernen und einen Sohn bekommen, um dann wieder nach Hause fahren und wie ein Mensch leben zu können.« Diese Frau war tatsächlich in dem Glauben aufgewachsen, dass »du als Mensch nichts zählst, solange du keinen Sohn hast«.
    Ich erklärte ihr, Mutterinstinkt bedeute das, was ihre Schwiegermutter gesagt hatte: »Jede Frau, die ein Kind geboren hat, musste Schmerzen erleiden, aber die Mütter von Mädchen haben alle ein gebrochenes Herz.«
    »Ist Ihre Schwiegermutter mit dem ältesten Sohn in der Familie verheiratet?«, fragte ich, denn das hätte bedeutet, dass es für sie sogar noch wichtiger war, einen männlichen Erben zu gebären. Auch wollte ich gern mehr über jemanden aus der älteren Generation erfahren, der so tief in das Herz anderer Frauen blicken konnte.
    »Ja, wie hätte sie sonst wissen können, was ich fühlte? Sie hat mir erzählt, dass auch sie ein gebrochenes Herz hat. Ich glaube, sie hatte Angst, dass ich zu traurig werde. Sie ist keine schlechte Frau, und sie hat viel durchgemacht. Sie hat mir erzählt, dass sie sechs schreckliche Jahre hatte, weil sie vier Mädchen geboren und sie alle »erledigt« hat, ehe sie einen Sohn zu Welt brachte. Sie hat mir erzählt, wie furchtbar damals alles war, dass sie nichts zu essen hatten und auch kein Geld, um weggehen zu können. Die Kader waren damals sogar noch strenger, und wenn du nicht auf dem Feld gearbeitet hast, warst du konterrevolutionär. Sie hat es nicht über sich gebracht, ihre erste Tochter zu erledigen, aber bei der zweiten, dritten und vierten hat sie es dann selbst gemacht. Die Leute im Dorf sagen, sie hat die Mädchen so gut erledigt, dass es

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