Wolkentöchter
ganz schnell vorbei war. Mein Mann war ihr einziger Sohn. Danach hatte sie noch ein paar Mädchen, und die haben sie alle behalten. Mein Schwiegervater war ein Kader, deshalb konnte er für sich und seine Familie unter der Hand noch ein paar Streifen Land mehr besorgen, aber meine Schwiegermutter sagt, sie hatte immer Hunger. Ihre Kinder jedoch hat sie nie hungern lassen. Zwei meiner Schwägerinnen waren die einzigen Mädchen im Dorf, die zur Schule gehen durften. Die anderen Eltern konnten sich so was nicht leisten. Meine Schwiegermutter meint, wenn man zur Schule geht und später einen aus der Stadt heiratet, der lesen und schreiben kann, dann ist es egal, wenn man keinen Sohn hat.«
»Glauben Sie ihr?«, fragte ich. Ich fragte mich, ob ich selbst das glauben würde, wenn ich in einem Dorf wie dem ihren aufgewachsen wäre.
»Ja, natürlich. Sie ist eine gute Frau, und sie hat ein gütiges Herz. Nie hat sie mich geschlagen oder mir kein Essen gegeben. Eine gute Schwiegermutter ist nicht leicht zu finden für eine Frau wie mich, die keinen Sohn gebären kann. Ich habe einfach keinen Ausweg, oder? Falls Sie mir nicht glauben, fragen Sie irgendwelche anderen Frauen.«
Ich musste dann gehen, zurück zu meiner Arbeit. Im Geist sehe ich die Frau noch heute vor mir, wie sie auf die Rückkehr ihres Mannes wartet – und auf einen Sohn.
Ich habe viele Jahre lang die Lebensbedingungen chinesischer Frauen recherchiert, und ich fand es extrem schwierig, irgendwelche Urkundenbeweise in die Hände zu bekommen, wie sie in höher entwickelten Staaten in Zentralbehörden oder Regionalverwaltungen aufbewahrt werden. Teilweise lag das daran, dass alles »Alte« während der Kulturrevolution geplündert und zerstört wurde. Noch entscheidender war jedoch, dass chinesische Frauen im Laufe der Jahrhunderte nie das Recht hatten, ihre eigenen Geschichten zu erzählen. Sie lebten auf der untersten Sprosse der gesellschaftlichen Leiter, man erwartete widerspruchslosen Gehorsam von ihnen, und sie hatten keinerlei Möglichkeit, sich ein eigenes Leben aufzubauen. Den meisten Frauen erschien dieser Zustand so »natürlich«, dass sie sich nur zwei Dinge wünschten: in diesem Leben keine Töchter zu gebären und im nächsten Leben nicht als Frau wiedergeboren zu werden.
Besonders in den armen ländlichen Regionen litten viele Frauen so furchtbar, dass sie ihren Geschlechtsgenossinnen gegenüber gleichgültig oder gar grausam wurden. Sie glaubten nicht, dass ihre eigenen Töchter diesem Teufelskreis entkommen könnten, aber sie wollten auch nicht, dass sie »Schande« über die Familie brachten oder das gleiche traurige Schicksal wie sie selbst erdulden mussten. Also »erlösten« sie sie manchmal aus Liebe »von ihrem Elend«, indem sie sie gleich nach der Geburt erstickten. Mag sein, dass in China andere Zeiten angebrochen waren, aber viele Mütter, vor allem in armer urbaner und ländlicher Umgebung, sahen sich weiterhin vor dieselbe Wahl gestellt. Offenbar gehörte das einfach zum Leben als Frau und Mutter.
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3
Die Geschichte der Hebamme
Wenn ich sehen konnte, dass es ein Junge wurde, und es war der Erstgeborene, dann war das eine »Weihrauchgeburt«. Dafür konnte ich den dreifachen Lohn nehmen.
W aiters Brief machte mir die Tatsache bewusst, dass Frauen sich ihrer Babys entledigten, und mein Erlebnis in dem Yimeng-Bergdorf brachte mich erstmals in direkten Kontakt mit einer dieser Mütter. An einem Wintermorgen des Jahres 1990 sah ich dann zum ersten Mal ein ausgesetztes Baby.
An besagtem Tag hatte ich allerhand vor. Für elf Uhr war eine Strategiebesprechung angesetzt und für drei Uhr nachmittags die übliche Konferenz für politische Bildung. Außerdem musste ich irgendwann zwischendurch noch ein Interview mit einem Gast für meine abendliche Sendung
Worte im Abendwind
machen. Daher hatte ich beschlossen, früher als sonst in den Sender zu fahren, um die Themen- und Musikauswahl zu treffen und Hörerbriefe zu lesen und zu bearbeiten.
Es war noch dämmerig und bitterkalt, als ich an dem Morgen um acht Uhr auf meinem Fahrrad der Marke Fliegende Taube losfuhr. Meine Finger waren steif gefroren, obwohl ich Handschuhe trug, und viele Menschen, die zur Arbeit hasteten, trugen Gesichtsmasken. (Als ich 1997 im Westen ankam und in den Zeitungen las, dass die Chinesen Gesichtsmasken trugen, um sich vor der Luftverschmutzung in den Städten zu schützen, musste ich auflachen. Vor 1990 wusste die große Mehrheit der Chinesen
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