Wolkentöchter
weiß die ganze Stadt, was hier passiert.«
»Ich sage dem Chef Bescheid«, stotterte die Krankenschwester und hängte das Schild »Anmeldung geschlossen« an die Scheibe. Dann eilte sie davon, um zu fragen, was sie machen sollte.
Wenige Minuten später kam ein Arzt mittleren Alters und nahm mir das Baby wortlos aus den Armen. Er trug es in einen Behandlungsraum, hinderte mich aber daran, mitzukommen, sondern bedeutete mir, draußen zu warten. Kaum hatte ich mich gesetzt, kam ein Mann im Krankenhauskittel auf mich zu.
»Verzeihung, sind Sie Xinran vom Radio?«
»Ja, was ist denn?«, fragte ich angriffslustig zurück. Ich war noch immer wütend wegen der Szene an der Anmeldung.
»Ich bin hier der leitende Pfleger«, erklärte er freundlich, »und der Geschäftsführer des Krankenhauses hat mich beauftragt, Ihnen den Vorfall an der Anmeldung zu erklären. Die Schwester hat sich korrekt den Vorschriften entsprechend verhalten, aber sie hätte sich flexibler zeigen sollen. Unser Krankenhaus ist verpflichtet, in Übereinstimmung mit der staatlichen Ein-Kind-Politik zu arbeiten, und dabei sind die Bereiche Geburtshilfe und Pädiatrie besonders kritisch. Kein Krankenhausmitarbeiter hat das Recht, diese Politik zu unterlaufen. Wenn wir das täten, würden wir alle unsere Arbeit verlieren.«
»Und wenn ein Menschenleben gefährdet ist? Hat die Rettung von Leben nicht Vorrang vor Krankenhausvorschriften?«, entgegnete ich trotzig.
»Selbstverständlich. Das ist nur menschlich, und auch wir Ärzte und Pflegekräfte haben menschliche Gefühle. Wir haben schon vielen Babys das Leben gerettet, die vor dem Krankenhaus ausgesetzt wurden. Fast alle waren Mädchen. Aber wir konnten sie nicht hierbehalten. Wir mussten sie ins Waisenhaus geben. Dann sagten die vom Waisenhaus, sie könnten keine Babys mehr aufnehmen, es würden einfach zu viele ausgesetzt; sie bekämen weder zusätzliches Geld noch Personal, um die Kinder zu versorgen, da die Kapazität mehr als ausgeschöpft sei. Wir haben hier kein offizielles Adoptionssystem. Viele Krankenhausmitarbeiter würden die Babys gern selbst aufnehmen, aber die Ein-Kind-Politik verbietet das, wenn man schon ein Kind hat. Wir könnten dann nicht mal unser eigenes Kind in den Kindergarten schicken, und niemand will die Zukunftsaussichten seines Kindes gefährden. Letztlich mussten wir dafür sorgen, dass hier keine Babys mehr ausgesetzt werden. Ich will Ihnen nichts vormachen, wir haben Nachtwächter eingestellt, die den Eingang bewachen und nur Leute reinlassen, die sich angemeldet haben. Und es darf sich auch niemand mehr vor dem Eingang aufhalten.« Der Pfleger seufzte: »Neugeborene Mädchen haben in einer Gesellschaft, in der nur Söhne etwas wert sind, noch nie große Zukunftschancen gehabt.«
Kurz darauf kam der Arzt heraus und erklärte, die Kleine sei sehr kräftig; sie habe leichte Erfrierungen erlitten, sei aber ansonsten vollkommen gesund. Er empfahl, sie ein paar Tage zur Beobachtung im Krankenhaus zu lassen, weil unterkühlte Neugeborene leicht eine Lungenentzündung bekämen. Er sagte kein Wort von Geburtserlaubnis oder Behandlungsgebühren. Und so wurde das Baby auf die Notfallstation gebracht. Als ich zum Sender kam, war mein Fahrrad schon da. Der Pförtner gab mir den Fahrradschlüssel und sagte: »Der Mann will sich um neun Uhr mit Ihnen treffen.«
Als die Sendung an diesem Abend begann, ließ ich den üblichen Nachrichtenüberblick weg. Stattdessen beschloss ich, meinen Hörern von dem erschütternden Ereignis am Morgen zu erzählen und sie zu bitten, nach der Mutter des Babys und seiner Familie zu suchen. Als die Sendung zur Hälfte um war, sagte mir die Regisseurin, sie hätte einen dringenden Anruf für mich. Damals gab es noch keine Sendungen mit Hörertelefon. Die wenigsten Menschen hatten schon Telefon, und es kam ganz selten vor, dass jemand in der Regie anrief und eine Nachricht hinterließ, die dann über den Sender gehen sollte. Die Stimme der Regisseurin verriet mir, dass es ein äußerst ungewöhnlicher Anruf sein musste, auch hätte sie mich sonst nicht unterbrochen. Instinktiv dachte ich an meinen Sohn: »Ist Panpan etwas zugestoßen?«
»Nein, keine Sorge!«, beruhigte mich die Regisseurin. »Da ist eine völlig aufgelöste Frau in der Leitung, die förmlich drum gebettelt hat, mit dir zu sprechen.« Es war unüberhörbar, dass die Anruferin das Mitleid der Regisseurin geweckt hatte.
Ich griff zum Hörer. Im Hintergrund hörte ich ein Radio, das
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