Wolkentöchter
nicht mal, was Umweltverschmutzung ist. In den ersten Jahren der Wirtschaftsreform beschränkte sich der Bauboom ausschließlich auf die Küstenstädte des Südens. Im Hinterland lautete die Devise nach wie vor: Abwarten und Tee trinken. Umfangreiche Stadterneuerungen begannen erst Ende der 1990 er Jahre. In unserem Kontinentalklima können die Temperaturen im Winter auf minus zehn oder gar minus dreißig Grad Celsius sinken, daher trugen die Menschen Masken, um ihr Gesicht gegen die Kälte zu schützen. Ich trug nur ungern eine Gesichtsmaske, und zwar aus drei Gründen: Wegen meiner kleinen Ohren hatte die Maske keinen richtigen Halt; durch die Maske beschlug meine Brille; und die Maske wurde innen schnell unangenehm feucht.)
Wenn ich mit meinem Fahrrad über die Straßenmärkte und durch die schmalen Gassen abseits der Hauptstraßen fuhr, lernte ich einige kostbare Lektionen über die Gesellschaft, in der ich lebte. Bis zum Ende der 1970 er Jahre waren lange Warteschlangen ein Anblick, den es heute so nicht mehr gibt. Jeden Morgen, sobald es hell wurde, stellten sich die Menschen auf dem noch leeren Lebensmittelmarkt an. Sie warteten darauf, dass die Läden mit Fleisch, Öl und Tofu aufmachten, weil es in dieser Zeit mehr Bezugsscheine gab als Güter des täglichen Bedarfs (Brennstoff, Reis, Öl und Salz). Niemand las Bücher oder Zeitungen – die einzigen Nachrichten waren Parteinachrichten, und die wurden ohnehin allerorts bekanntgegeben. Es gab kein Geschiebe und Gedränge, um Sonderangebote zu ergattern – dafür wäre man wegen »imperialistischen Verhaltens« erschossen worden. Plauderten die Leute miteinander, um sich die lange Wartezeit zu vertreiben? Ganz sicher nicht. Viele Menschen waren schon wegen »müßigen Geplappers« im Gefängnis gelandet. Wir erhoben unsere Stimmen nur, um politische Parolen zu schreien. Über das Alltagsleben sprachen wir nie.
In den 1980 er Jahren gab es schon genügend Brennstoffe und Grundnahrungsmittel zu kaufen, aber kaum Auswahl, was Qualität oder Preise anging. Ein Jahrzehnt später hatte der Wirtschaftsboom das Gesicht der Hauptstraßen in den meisten kleineren und größeren Städten bereits stark verwandelt, aber seine Auswirkungen waren noch nicht bis in die Nebenstraßen vorgedrungen, in denen das einfache Volk einkaufte. Und noch etwas hatte sich nicht geändert: die Menschen, die am frühen Morgen Schlange standen. In zerknitterter Kleidung, verschlafen und dick eingepackt gegen die Kälte, standen sie in langer ungeduldiger Reihe vor stinkenden öffentlichen Toiletten, aus denen manchmal trübe Jauche sickerte, und schimpften über die Leute drinnen, die sich zu lange Zeit ließen. An diesen Toiletten führte kein Weg vorbei, obwohl ich es mir gewünscht hätte. In fast jeder Straße gab es eine – nur eine, für über hundert Anwohner.
An jenem Morgen kam ich an einer solchen Toilette vorbei, und anstelle der üblichen Schlange sah ich eine Menschenmenge, die sich vor dem Eingang drängelte. Mir war sofort klar, dass irgendwas Besonderes passiert sein musste. Damals gab es in China kaum Unterhaltung, denn die Medien wurden streng kontrolliert, und die meisten Menschen hatten weder einen eigenen Fernseher noch ein Telefon, noch das Geld, um ins Theater oder Kino zu gehen. (Genau genommen gab es auch fast nichts zu sehen oder zu unternehmen, selbst wenn man das notwendige Geld hatte.) Daher konnten die meisten Menschen nur dann so etwas wie Unterhaltung erleben und tatsächlich mal am aktuellen Geschehen teilnehmen, wenn irgendetwas Ungewöhnliches auf der Straße geschah und sie es gaffend bestaunen konnten. In diesem Fall schien die Menge aus der gesamten Anwohnerschaft der Straße zu bestehen. Ich betätigte unablässig meine Fahrradklingel, stieg schließlich vom Rad und schob. Alle redeten durcheinander, und bei dem Gewimmel um mich herum kam ich nur langsam vorwärts.
Schließlich erreichte ich die Stelle, wo die Menschentraube am dichtesten war. Anscheinend war ein Streit im Gange, und ich bekam Bruchstücke davon mit:
»
Ai-ja!
Wie winzig es ist. Bestimmt zu früh gekommen.«
»
Ai-ja!
Kuck mal, ich glaub, es atmet! Vielleicht lebt es ja noch.«
»Na klar! Siehst du nicht, dass sich das Köpfchen bewegt? Das arme kleine Ding!«
»Muss ein Mädchen sein. Bestimmt wollte die Mutter, dass es lebt, sonst hätte sie es ins Klo geworfen.«
»Ich glaub, lange hält das Würmchen nicht mehr durch bei der Kälte; die ist tödlich. Seht mal, es wird
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