Wolkentöchter
offenbar die Musik meiner Sendung spielte.
»Hallo, hier spricht …«, setzte ich an, wurde aber von einer tränenerstickten Stimme unterbrochen, die beschwörend sagte:
»Ich weiß, Sie sind Xinran, danke. Ich höre Ihre Sendung in einem kleinen Eckladen. Aber ich hab kaum noch Kleingeld fürs Telefon. Danke, dass Sie meine Tochter mitgenommen haben, das arme kleine Ding. Tausend Dank! Bitte geben Sie ihr einen Kuss von mir, wickeln Sie sie schön warm ein …«
Es war die Mutter des Kindes. Ich fragte aufgeregt: »Wo sind Sie? Ihre Tochter ist im …«
»Ich weiß, wo sie ist. Ich bin Ihnen heute Morgen gefolgt, als Sie mein Baby ins Krankenhaus gebracht haben. Danke!
Ai-ja …
Mein Geld ist gleich alle. Sagen Sie meinem Baby, es tut mir so leid. Es tut mir so … so …« Dann unterbrach ein Klicken die gequälte Stimme, und die Verbindung war beendet.
Ich saß stumm da, das Schluchzen der Frau noch in den Ohren und das Bild von dem blau gefrorenen Kindergesichtchen vor Augen.
Die Regisseurin reagierte geistesgegenwärtig – sie nahm mir den Hörer aus der Hand und drückte die Rückruftaste. Es meldete sich niemand. »Sie muss von einem öffentlichen Telefon aus angerufen haben. Ich hätte sofort zurückrufen sollen«, sagte ich kleinlaut.
Benommen ging ich zurück ans Mikrofon. Ich wusste einfach nicht, was ich sagen sollte. Dann brachte mich irgendwas dazu, ein chinesisches Lied zu spielen: »Lass mich mit sanften Händen deine Tränen trocknen und dein Herz mit meiner Liebe wärmen …«
Von da an sang ich selbst das Lied oft für Mütter, die ihre Töchter verloren haben. Einige Jahre später, als ich in London meine Stiftung für adoptierte Kinder, The Mothers’ Bridge of Love, gegründet hatte, verwendeten wir dieses Lied als Titelmusik der MBL -Webseite. Ich sprach mit dem Mann, der das Lied geschrieben hat, Guo Feng. Er rief aus China an und zeigte sich verständnisvoll: »Nur zu, verwenden Sie es!«, sagte er. »Wenn das Lied Kindern vermitteln kann, dass ihre leiblichen Mütter sich nach ihnen sehnen, dann ist das mein Beitrag dazu, diesen Müttern zu helfen.«
Nachdem die Sendung an jenem Tag vorüber war, rief ich in der Pädiatrie des Krankenhauses an. »Die Kleine isst gut«, teilte mir der Arzt mit. »Sie schläft jetzt friedlich … Aber wo ist ihre Mutter? Ich hab sie nicht gesehen.«
Am nächsten Morgen fuhr ich zum Krankenhaus, um das Mädchen zu besuchen. Ihre wachen kleinen Augen waren offen, das Gesicht war jetzt rosig, und sie krampfte und zuckte nicht mehr. Der Arzt gab mir ein blauweiß gemustertes Tuch, das ich als jenes wiedererkannte, worin das Baby eingewickelt gewesen war. Es war das Einzige, das sie in ihr neues Leben begleitet hatte. »Sie ist gerade mal zwei Tage alt«, sagte der Arzt. »Sie hat eine leichte Lungeninfektion, aber sie ist ein Glückskind. Sie haben sie hergebracht. Noch ein, zwei Tage unter Beobachtung, und wir können sie der Mutter zurückgeben.« Ich nahm das Tuch mit einer Hand und wollte ihm mit der anderen ein Kuvert zustecken. Es enthielt Geld, wie er sich bestimmt denken konnte.
Aber er wehrte es ab. »Das ist nicht nötig. Auch wir sind Eltern, und so etwas geht uns wirklich ans Herz. Wir werden die Kosten für ihre Behandlung unter uns aufteilen.«
»Das kann ich nicht zulassen. Sie haben ohnehin schon gegen das Gesetz verstoßen, nur weil sie sie aufgenommen und behandelt haben. Da können Sie doch nicht auch noch die Kosten übernehmen!«
Er winkte jedoch ab. »Wir haben ziemlich viele reiche Patienten. Die können ruhig ein bisschen mehr für ihre Behandlung bezahlen.«
Dem hatte ich nichts mehr entgegenzusetzen. Sollten diese korrupten Beamten ruhig die Behandlung der Kleinen finanzieren. In einer kranken Gesellschaft spricht nichts dagegen, sich mit nicht ganz legalen Methoden zu wehren.
Ein Glassplitter auf der Straße hatte mir einen Plattfuß beschert, und so schob ich mein Rad an jenem Tag in der Mittagspause zu einem Reparaturstand ganz in der Nähe. Von den rund zweitausend Menschen, die im Sender arbeiteten, kamen schätzungsweise eintausendachthundert mit dem Fahrrad, und über die Hälfte von ihnen kannte die Frau, die diesen Reparaturstand hatte. Nicht nur, weil er ganz in der Nähe lag und sie preisgünstig, schnell und gut arbeitete, sondern auch, weil sie praktisch alles reparieren konnte, von Fußbällen über Gummischuhe bis hin zu Schirmen.
Ich weiß noch, dass ich einmal mit ihr scherzte: »So gut und
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