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Wolkentöchter

Wolkentöchter

Titel: Wolkentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xinran
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schon blau! Müsste bald aus mit ihm sein …«
    Ich wollte meinen Ohren nicht trauen und spürte eine böse Vorahnung in mir aufsteigen. Was um Himmels willen war da los?
    Schließlich durchbrachen mein Fahrrad und ich den Kreis der Umstehenden. Da lag etwas zu unseren Füßen, etwas, das von Kopf bis Fuß fest in ein billiges blauweiß gemustertes Tuch eingewickelt war. Es hatte ein winziges Köpfchen, nicht größer als meine Faust, das bläulich verfärbt war. Es zuckte aber noch dann und wann und rang nach Luft. Es war ein Baby, und es lebte.
    »Tatsächlich, es bewegt sich noch!«, rief einer der Gaffer laut, aber keiner hob das Baby auf. Ich weiß nicht, wie lang es schon da lag, aber gemessen an der Zahl der Umstehenden und daran, wie verfroren sie aussahen, bestimmt schon eine ganze Weile.
    Warum? Waren diese Leute derart unmenschlich, dass sie, ohne einen Finger zu rühren, zusehen konnten, wie ein Säugling vor ihren Augen erfror? Kurz entschlossen drückte ich mein Fahrrad irgendwem in die Hände, sprang zu dem Baby, hob es auf und schob es vorne in meine Lederjacke. Ein Aufschrei ertönte.
    »Was macht die da?«
    »Will sie das Baby etwa mitnehmen?«
    »Was bildet die sich denn ein? Die spinnt wohl. So was macht man doch nicht!«
    »Die jungen Leute sind einfach zu impulsiv. Es mitnehmen ist eine Sache, aber wie will sie es wieder loswerden?«
    Ich achtete kaum auf die Kommentare. Mit dem Bündel sicher vorne in der Jacke, angelte ich in meiner Tasche nach einer Visitenkarte und gab sie dem verblüfften jungen Mann, der mein Fahrrad hielt. »Bitte bringen Sie mein Fahrrad zum Rundfunkgebäude. Ich moderiere die Abendsendung. Ehe sie anfängt, werde ich am Empfang auf Sie warten und mich für Ihre Mühe erkenntlich zeigen. Vielen Dank!« Ich wartete seine Antwort nicht ab, sondern rannte mit dem Säugling zum nächsten Krankenhaus, denn damals mieden Taxifahrer tunlichst die engen Nebenstraßen.
    »Lange hält das Würmchen nicht mehr durch …« Der Satz ging mir nicht aus dem Kopf, aber ich sagte mir wieder und wieder: Nein, nein, ich werde dieses kleine Geschöpf nicht vor meinen Augen sterben lassen. Es ist ein menschliches Wesen. Ein lebendes, atmendes menschliches Wesen, das zahllosen anderen das Leben schenken kann.
    Ich lief zur Notaufnahme des Krankenhauses und schnurstracks zum Anmeldeschalter, wo mich die Krankenschwester bremste: »Verzeihung, ist das Ihr Baby? Haben Sie die Geburtserlaubnis? Ohne Geburtserlaubnis können wir es nicht behandeln.«
    »Tut mir leid, damit kenn ich mich nicht aus. Ich hab die Kleine gerade vor einer öffentlichen Toilette gefunden. Sehen Sie doch, sie ist vor Kälte ganz blau! Ein Arzt muss sie sich ansehen und sie retten.« Ich hielt das Baby vor die Glasscheibe, weil ich hoffte, dass sein Anblick ihren Mutterinstinkt wecken würde.
    »Ohne Geburtserlaubnis können wir das Baby leider nicht registrieren. Und wenn es nicht registriert ist, wird kein Arzt es behandeln. Die bekommen Prämien, je nach Anzahl der registrierten Patienten.« (In den 1980 er Jahren verdiente man mit Prämien ein Vielfaches des Grundlohns.) Das kleine Wickelkind, das ich ihr hinhielt, ließ sie offensichtlich ungerührt.
    »Ärzte haben die Pflicht, Leben zu retten. Sie werden doch wohl nicht hier rumstehen und zusehen, wie das Baby vor Ihren Augen stirbt!«, sagte ich jetzt beschwörend. Hier zählte jede Sekunde, wie die Schwester sicherlich wusste.
    »Sie haben völlig recht, aber Ärzte sind auch nur Menschen. Wenn sie gegen die Regeln und Vorschriften verstoßen und ihren Arbeitsplatz verlieren, übernehmen Sie dann die Verantwortung?«
    Ich begriff, dass ich mit Argumenten nicht weiterkommen würde. Also griff ich in meine Umhängetasche, holte meinen Presseausweis heraus und drückte ihn gegen die Scheibe. »Sehen Sie sich das hier gut an! Ich werde eine Radioreportage über dieses Baby machen. Was ist im heutigen China wichtiger – ein Menschenleben oder das System, von dem Sie sprechen? Falls dieses Baby in Ihrem Krankenhaus stirbt, berichte ich das heute Abend in meiner Sendung, und morgen steht es in den Zeitungen. Was werden Ihre Vorgesetzten wohl dazu sagen?« Zu dieser Zeit hatten Journalisten erstaunlich viel Einfluss, und das wusste sie.
    Meine Tirade hatte sie eingeschüchtert, und sie wusste offensichtlich nicht, was sie machen sollte.
    »Holen Sie bitte Ihren Vorgesetzten! Sonst setze ich mich sofort mit dem Lokalsender in Verbindung, und in einer halben Stunde

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