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Wolkentöchter

Wolkentöchter

Titel: Wolkentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xinran
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haltbar, wie Ihre Reparaturen sind, haben Sie bald nichts mehr zu tun. Und dann sind Sie arbeitslos.«
    »Ich sehe das anders«, antwortete sie. »Ihr im Sender seid schon über tausend Kunden, und wenn jeder nur ein einziges Mal im Jahr was bei mir reparieren lässt, dann hab ich das ganze Jahr zu tun. Und da sind all die großen und kleinen Straßen hier im Viertel noch gar nicht mit eingerechnet. So viele Leute brauchen ihr Fahrrad, um zur Arbeit zu kommen. Es reicht schon, wenn einer von hundert mich weiterempfiehlt, dann hab ich immer gut zu tun. Andererseits, wenn einer etwas Schlechtes über mich sagt, muss ich zumachen und mir einen anderen Standort suchen, denn, Sie wissen ja: ›Schlechte Nachrichten reisen schnell, gute Nachrichten bleiben zu Hause.‹ Aber ich fühle mich hier wohl. Ihr seid alles gebildete Leute und sehr freundlich zu mir. Zu jedem Neujahrsfest bekomme ich Sachen zum Anziehen geschenkt. Ich weiß, für euch sehen sie alt und schäbig aus, aber ich bin bloß eine alte Frau mit einem kleinen Reparaturstand, ich könnte nicht mal im Traum daran denken, mir so schöne Sachen zu kaufen.«
    Als ich bei ihr ankam, legte sie bedächtig den Schirm beiseite, den sie gerade flickte, und wartete gar nicht erst ab, bis ich etwas sagte, sondern nahm mir das Fahrrad aus der Hand und drückte prüfend auf den Vorder- und Hinterreifen.
    »Der hintere Schlauch hat ein Loch, und der vordere braucht ein bisschen mehr Luft. Lassen Sie das Rad hier! Wenn ich Feierabend mache, bringe ich es Ihnen zurück und gebe es beim Portier ab. Dann müssen Sie nicht die ganze Zeit warten, bis es fertig ist. Vergessen Sie nur nicht, morgen vorbeizukommen und mich zu bezahlen!«
    »Ich hab heute Nachmittag nichts vor. Ich würde gern zusehen, wie Sie den Schlauch flicken, dann lerne ich, wie das geht.«
    »Wirklich?« Sie musterte mich skeptisch über den Rand ihrer Brille.
    »Wirklich. Es sei denn, es dauert länger als einen halben Tag. Wäre schade, wenn ich wegmuss, ehe ich alles gesehen hab.« Ich folgte ihr zu einer Stelle hinter ihrem Stand, wo sie das Fahrrad auf den Sattel stellte.
    »Mein ganzes Handwerk ist ›Zehnminutentechnik‹, keine Minute länger. Also, was wollen Sie lernen?«
    »Wie gesagt, wie ich den Schlauch flicken kann. Aber erledigen Sie ruhig erst mal die Reparatur da!« Ich deutete auf den Schirm, den sie aus der Hand gelegt hatte.
    »Das hat Zeit. Den hat mir eine Frau geschenkt, die ihn nicht mehr haben wollte. Ich kann ihn gebraucht verkaufen, wenn er repariert ist. Aber das kann ich später noch machen. Also, los geht’s!«
    Sie schraubte am Hinterrad das Ventil ab, drückte das Ventilgehäuse durch die Felge und hatte mit Hilfe eines kleinen, mit einem Lappen umwickelten Stücks Holz im Handumdrehen den Schlauch aus dem Reifen gezogen.
    »Worüber haben Sie denn in letzter Zeit im Radio so alles geredet?«, fragte sie, während sie arbeitete.
    Sie suchte den Schlauch nach der undichten Stelle ab, indem sie ihn in eine Schüssel mit Seifenwasser drückte, und ich erzählte ihr, worüber ich in den letzten Sendungen gesprochen hatte. Als ich zu den Ereignissen des Vortages und zu dem ausgesetzten Baby kam, hielt sie plötzlich in ihrer Arbeit inne.
    »Haben Sie das blauweiße Tuch noch, in das die Kleine gewickelt war?«
    »Ja. Warum?« Ich wunderte mich, dass sie sich für so ein unwichtiges Detail interessierte. Ich hatte angenommen, sie wollte nur ein bisschen bei der Arbeit plaudern.
    »Wahrscheinlich steckt doch irgendeine Geschichte dahinter, meinen Sie nicht?«
    »Wie kommen Sie darauf?«
    »Ich verrate Ihnen mal was. Bevor ich 1987 in die Stadt kam, hab ich als reisende Hebamme gearbeitet, aber ich hab damit aufgehört, weil ich weitsichtig wurde und meine Hände anfingen zu zittern, so dass ich Angst hatte, jemandem zu schaden.«
    Ich betrachtete sie verwundert.
    »Sieht man mir nicht an, was? Ich kann Ihnen sagen, Babys auf die Welt holen ist sehr viel schwieriger als Fahrräder, Schirme, Fußbälle und Schuhe reparieren. Ehrlich, wenn du als Hebamme gut bist, kannst du jemandem ins Leben helfen, der fünfzig Jahre lang für sich selbst sorgt. Und wenn du keine gute Hebamme bist? Dann kannst du einen gesunden Menschen in weniger als drei Tagen umbringen. Bei der Geburt ist es schwer, Blutungen zu vermeiden. Und eine Kindbettblutung ist gefährlich, sie kann eine Frau umbringen, sie blutet aus. Wenn eine Frau Blut verliert, verliert sie Kraft. Sobald sie anfängt, gutes Blut zu

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