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Wolkentöchter

Wolkentöchter

Titel: Wolkentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xinran
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verlieren, verliert sie ihre ganze Energie, und dann gibt es Probleme, überall im Körper …«
    Während sie sprach, musste ich an die vielen Hörerbriefe denken, in denen von Hebammen die Rede war – manche waren segensreiche Wohltäterinnen, andere waren brutal und geldgierig. »Und haben Sie auch für Eltern neugeborene Mädchen erledigt?«, fragte ich vorsichtig unter Verwendung des üblichen Euphemismus, weil ich mich nicht traute, das grässliche Wort »ersticken« zu benutzen.
    Die Reparaturfrau war dabei, rings um das Loch im Schlauch das Gummi anzurauhen. Jetzt hielten ihre Hände inne. »Ich habe meinen Lebensunterhalt als Hebamme damit verdient, die männlichen Erben auf die Welt zu holen …«
    Ich verstand nicht ganz. »Wussten Sie denn schon vor der Geburt, ob es ein Mädchen oder ein Junge wird?«
    »Natürlich konnte ich es nicht mit Sicherheit sagen. Damals gab es noch keinen Ultraschall und so Sachen. Aber anhand der Form des Bauches der Schwangeren, des Bauchnabels und des Ausdrucks im Gesicht der Frau konnte ich es einigermaßen gut abschätzen, und ich lag meistens richtig.«
    »Woran genau konnten Sie es denn erkennen?« Plötzlich fiel mir wieder ein, wie meine Arbeitskolleginnen auf meinen Bauch gezeigt hatten, als sie orakeln wollten, ob Panpan ein Junge oder ein Mädchen werden würde.
    »Auch wenn sich das merkwürdig anhört, aber im Grunde ist es ganz simpel: Wenn der Bauch spitz nach vorne ragt, wird es normalerweise ein Junge. Wenn die Frau eher rundlich ist, wird es meistens ein Mädchen. Ein vorstehender Bauchnabel bedeutet Junge, einer, der nach innen geht, bedeutet Mädchen. Und bei uns zu Hause hatten wir eine Redensart, dass ein Junge seine Mutter ›auffrisst‹, wohingegen ein Mädchen wie Schminke wirkt. Das heißt, Frauen, die mit einem Mädchen schwanger sind, sehen frisch und strahlend aus. Mit einem Jungen schwanger zu sein verlangt den Frauen sehr viel mehr ab.«
    Diese alten Ammenweisheiten interessierten mich. »Gab es da, wo Sie herkommen, viele Frauen, die sich so gut damit auskannten wie Sie?«
    »Ich weiß nicht. Wahrscheinlich nicht allzu viele. Wie hätte ich sonst mein Essen verdienen sollen?«
    »Ich glaube, ich verstehe nicht ganz.« Mir war nicht klar, was dieses »natürliche Wissen« für eine Bedeutung hatte.
    »Vor der Geburt eines Kindes wurde ich oft von den Familien gefragt, ob es ein Mädchen oder ein Junge werden würde. Einerseits, weil sie wissen wollten, wie hoch mein Lohn ausfallen würde, andererseits um die Feiern zur Geburt vorzubereiten – natürlich nur, wenn es ein Junge war. Dann gab es rot gefärbte Eier für Freunde und Verwandte, kleine Gedichte zur Feier des Tages, die verbrannt wurden, um den Ahnen die gute Neuigkeit mitzuteilen und den Geistern für ihre Güte zu danken. Außerdem musste Babykleidung besorgt werden, und …« Die Reparaturfrau stockte, blickte zum Himmel hinauf und sprach dann weiter: »… etwas für die böse Tat. Sie brauchten bestimmte Dinge, um es aus dem Weg zu schaffen.«
    »Was für ›Dinge, um es aus dem Weg zu schaffen‹?«
    »Wenn ein Mädchen geboren wurde«, sagte sie mit sichtlichem Widerwillen. Dann wechselte sie das Thema. »Es war eine Frage des Geschäftssinns. Wenn es dir gelang, den richtigen Preis auszuhandeln, dann konntest du das ganze Jahr hindurch gut essen. Wenn nicht, gab es in zehn von zwölf Monaten Süßkartoffeln.«
    »Den Preis dafür, das Baby zu entbinden?«
    »Wenn ich sehen konnte, dass es ein Junge wurde, und es war der Erstgeborene, dann war das eine Weihrauchgeburt. (Der Name leitet sich aus dem Glauben ab, dass die Familie dann einen Erben hatte, der für seine Ahnen Weihrauch verbrennen würde.) Dafür konnte ich den dreifachen Preis nehmen. War die Mutter die Frau des ältesten Sohnes, dann verhieß die Geburt für die Familie Glück, weil nun ihr Fortbestand gesichert war, und ich konnte das Sechsfache nehmen. Wenn keines von beidem der Fall war, es sich aber immerhin um einen Jungen handelte, konnte ich auch noch einen ganz ordentlichen Preis verlangen.«
    »Was, wenn Sie sahen, dass es ein Mädchen war?«
    »Nun, zuerst musstest du rausfinden, was die Familie wollte. Wenn sie einfach nur ein Baby wollten, selbst wenn es ein Mädchen war, dann nahmst du den normalen Preis, aber wenn sie es aus dem Weg schaffen wollten, dann konntest du einen sehr hohen Preis verlangen.«
    »Was meinen Sie mit ›aus dem Weg schaffen‹?« Wir waren wieder bei meiner ursprünglichen

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