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Wolkentöchter

Wolkentöchter

Titel: Wolkentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xinran
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Frage.
    »Wollen Sie das wirklich wissen? Sie werden mich nicht dafür hassen oder meinen Namen im Radio bringen?«
    »Sagen wir, falls ich in meiner Sendung darüber spreche, erkläre ich einfach, dass ich im Zuge meiner Recherchen darauf gestoßen bin, aber ich werde Ihren Namen aus dem Spiel lassen.«
    »Also gut, ich verstehe. Ihre Sendungen sind eine große Hilfe für Frauen. Deshalb sage ich es Ihnen. Es ›aus dem Weg schaffen‹ heißt, irgendwie dafür sorgen, dass das Baby nicht überlebt.«
    »Was? Sie meinen, das Baby töten?«
    »Tja, wenn Sie unbedingt so reden müssen, wie die Leute aus der Stadt, dann ja, genau das bedeutet es.«
    »Und welche Methoden haben Sie benutzt?«
    »Ach, alle möglichen. Die Nabelschnur um den Hals wickeln und es erdrosseln, sobald der Kopf draußen war. Wenn es in Steißlage zur Welt kam, konnte man dafür sorgen, dass es an Fruchtwasser erstickte, dann konnte das Baby nicht mal einen einzigen Atemzug tun. Oder man legte das Neugeborene in eine Schüssel, drückte ihm nasses Pferdemistpapier aufs Gesicht, und nach ein paar Augenblicken fingen dann die Beine an zu strampeln. (Pferdemistpapier war ein billiges, grobes, gelbbraunes Papier, das aus Pflanzen hergestellt wurde.) Bei Frauen, die nie einen Sohn geboren hatten, sondern ein Mädchen nach dem anderen, bis die Familie es schließlich satthatte, wurden sie sogar einfach nur in den Klosetteimer gesteckt … Wie gesagt, es gab viele Möglichkeiten, aber ich will nicht mehr darüber sprechen, es war so bedrückend … Ein völlig gesundes kleines Baby, auf das die Mutter nicht einen Blick werfen durfte, einfach so ins Jenseits zu befördern …«
    Mir lief es kalt über den Rücken, während ich ihr zuhörte, und vor meinem geistigen Auge sah ich wieder das Füßchen, das in dem Yimeng-Bergdorf aus dem Klosetteimer ragte. Ich brachte es nur schwer über mich, mir das alles vorzustellen. Ich konnte kaum glauben, dass so viele kleine Babys durch die Hände dieser freundlichen Frau gestorben waren – wie viele? Ich traute mich nicht, sie zu fragen …
    Sie sah, wie fassungslos ich war, und fügte hilflos hinzu: »Ich hab die Familien doch auch von Unheil befreit.«
    »Diese kleinen Mädchen waren ein Unheil?«
    »Natürlich. Sie können das nicht verstehen, aber wir Menschen vom Land, wir hatten furchtbare Angst davor, dass das erste Kind ein Mädchen wird. Das bedeutete nämlich, dass die Familie eine ganze Generation oder gar mehrere Generationen lang den anderen Dorfbewohnern nicht mehr in die Augen sehen konnte. Ist das etwa kein Unheil? Außerdem, wer eine Tochter bekam, erhielt nicht mal ein winziges Stückchen Land zugeteilt, aber er hatte ein Maul mehr zu stopfen. Und später, wenn sie dann erwachsen war, musste er die Hochzeitskleidung bezahlen. Es war ein Unglück, von Anfang bis Ende. Die Menschen auf dem Land wachsen im Dreck auf, sie bekommen weder eine Ausbildung, noch können sie so ein Leben führen wie die Frauen in der Stadt.«
    »Sie hatten also nie ein Problem damit?« Ich war sicher, dass sie verstehen würde, was ich mit »damit« meinte.
    »Doch, natürlich, ich bin schließlich selbst eine Frau. Manchmal, wenn die Mutter bildhübsch war, kam mir unweigerlich der Gedanke, wie bildhübsch das Baby geworden wäre, und es tat mir in der Seele weh. Manchmal steckten die Mutter und der Vater mir hinter dem Rücken ihrer Eltern ein paar Münzen zu, damit ich das Kleine lebend wegbrachte. Eine Schwiegermutter war richtig bösartig und stopfte dem Baby das Pferdemistpapier mit den Fingernägeln in die Nasenlöcher, aber ich wusste, was richtig und was falsch war … Ich hab zu ihr gesagt, sie soll es mir geben, ich würde es ›in die Unterwelt schicken‹, und ich hab das Baby in Papier gewickelt und mitgenommen. Als ich weit genug weg war, hab ich es wieder ausgewickelt, und es atmete noch.«
    »Wo haben Sie die Babys hingebracht?«
    »Manche hatten das Glück, dass jemand schon eins bei mir bestellt hatte. Wenn zum Beispiel eine Frau in der Stadt keine Kinder bekommen konnte, dann hat die Familie schon mal ein Baby bei einer Hebamme gekauft. Wenn es für mich kein großer Umweg war, habe ich das Baby in ein Waisenhaus gebracht oder es einfach vor das Tor des Bezirkskrankenhauses gelegt, damit jemand es findet und mitnimmt. Damals haben ziemlich viele Menschen kleine Mädchen mitgenommen. Meistens wurden sie an Familien in armen Bergdörfern verkauft, wo sie aufwuchsen und dann den Sohn der Familie

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