Wolkentöchter
meistens ein Buch und trank eine Tasse grünen Tee, oder ich sprach mit Minguang über neue Bücher und Autoren. (Immer hatte sie pikante Neuigkeiten und Gerüchte über Bücher, die zensiert oder verboten worden waren, für mich auf Lager, Informationen, die uns über die offiziellen Medien niemals erreichten.) Wenn ich dann ein wohlschmeckendes Mittagessen verspeiste, konnte ich das Geplauder der anderen Gäste belauschen. Es war fast, als würde vor meinen Augen ein Stück aufgeführt. Ich fand schon immer, dass solche alltäglichen Straßenszenen zu großen Kunstwerken inspirieren und ihnen Leben einhauchen.
Bei den meisten Kunden des Tiny Home Chef handelte es sich um Stammgäste, die im Laufe der Zeit zu Freunden geworden waren. Viele waren außerdem Leseratten, die wegen der Bücher liebenden Chefin kamen. Wir Stammkunden waren ziemlich verschlossen, vielleicht weil Menschen, die viel lesen, meistens viel Privatsphäre brauchen. Es kam nur selten vor, dass Gäste mit anderen zusammen aßen oder endlos in ihre Handys quasselten, wie das die meisten Chinesen tun. Nein, wenn wir uns im Lokal begegneten, wechselten wir nur ein paar Worte über unsere Familien oder Bücher. Dann aßen wir, legten unsere Essstäbchen beiseite, bezahlten die Rechnung und verabschiedeten uns. Zunächst hatten Minguang und ich wenig miteinander gesprochen, außer wenn sie einen Beitrag zu meiner Sendung geschrieben hatte und ich in ihrem Lokal aß. Erst nachdem sie Kumei angestellt hatte, hatten wir ein weit wichtigeres Gesprächsthema.
Kumei war Minguang von einer Nichte namens Ying aus der Provinz Anhui vorgestellt worden. Laut Ying war sie eine stille junge Frau, deren Mann als Wanderarbeiter fortgegangen und nicht mehr zurückgekommen war. Gerüchten zufolge hatte er sich in der Stadt eine Geliebte genommen. Ob das nun stimmte oder nicht, Kumei schuftete jedenfalls weiter zu Hause für ihre Schwiegereltern. Die hingegen ergriffen nicht Partei für ihre Schwiegertochter, sondern erzählten sogar herum, ihr Sohn habe sich eine Frau mit breiten Hüften gesucht, die ihnen einen Enkelsohn geschenkt habe, während Kumei nach wie vor bei ihnen herumlungere und ihnen die kärglichen Getreiderationen wegesse. In diesen bitterarmen Dörfern war es schlimmer, keine Enkelsöhne zu haben, als kein Haus oder Land zu besitzen. Laut Ying wussten alle, dass Kumei wiederholt schwanger gewesen war, aber keines der Kinder hatte überlebt. Sie war nicht fähig gewesen, der Familie einen Erben zu schenken. Allem Anschein nach war das der Grund, warum ihr Ehemann sich im Süden Arbeit gesucht hatte.
Kumei war als Braut aus einem fernen Dorf gekommen, daher waren keine Verwandten oder Freunde da, die sie schützen konnten. Sie war Analphabetin, hatte keine eigene Meinung und lebte praktisch wie ein Arbeitstier, das Tag und Nacht schuften musste. Als Ying zum Frühlingsfest nach Hause fuhr, war sie zutiefst erschüttert von dem jämmerlichen Zustand, in dem Kumei sich befand, und nach ihrer Rückkehr machte Ying sich verzweifelt auf die Suche nach einer Arbeit für sie. Schließlich hörte sie, dass das Tiny Home Chef nach einer Hilfe suchte, und so kam Kumei 1992 in die Stadt.
Minguang und ihr Ehemann hatten kein Zimmer für Kumei, daher musste die junge Frau im Speiseraum schlafen. (Damals kam es so gut wie nie vor, dass städtische Lokalbesitzer ihren Arbeitskräften eine anständige Unterkunft boten.) Im Winter sorgte ein traditionelles Kohlebecken für Wärme. Kein Mensch machte sich Gedanken über giftigen Rauch, denn sobald man die Tür zum dunklen Flur öffnete, pfiff der Wind herein. Im Hochsommer lief dann brummend und klappernd ein uralter elektrischer Ventilator, der aber in der Hitze von Nanjing, wo es oft vierzig Grad Celsius heiß wird, kaum etwas bewirkte.
Kumei fing vormittags um halb elf damit an, Gemüse zu waschen und zu putzen, und arbeitete durch bis halb elf Uhr nachts. Dann fegte sie noch das Lokal und schloss ab. Es kam jedoch auch vor, dass Familien aus der Nachbarschaft das Lokal für Hochzeiten, Beerdigungen oder Geburtstagsfeiern mieteten, und außerdem war Nanjing im Sommer so heiß, dass die Leute gern spätnachts noch ausgingen, um einen Happen zu essen und zu schwatzen, so dass Kumei oft erst nach Mitternacht ins Bett kam.
Von montags bis freitags endete meine Sendung um Mitternacht, und in Sommernächten ging ich danach manchmal noch ins Tiny Home Chef, falls noch Gäste dort waren, um eine Schale mit erfrischenden
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