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Wolkentöchter

Wolkentöchter

Titel: Wolkentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xinran
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verschwindet? In den überregionalen Nachrichten kommen solche Fälle niemals vor, aber die lokalen sind voll davon. Viele Arbeitskräfte schleichen sich einfach heimlich davon und verschwinden. Wenn du es dir mit ihnen verscherzt hast, beklauen sie dich vielleicht auch noch oder sie lassen dich von ihren Freunden zusammenschlagen.
    Du kannst den Menschen nicht ins Herz sehen. Vielleicht hat Kumei irgendwas, was sie in sich hineinfrisst, uns hat sie jedenfalls nichts erzählt. Sie sagt ja überhaupt nie was außer: ›Vielen Dank, Onkel und Tantchen, Sie sind so gut zu mir.‹ Wenn wir so gut zu ihr sind, warum jagt sie uns dann so einen Schreck ein?« Und damit zündete Minguang sich mit dem Stummel ihrer Zigarette die nächste an.
    Ich beobachtete ihren Mann, der hin und her ging, schmutziges Geschirr und Abfall hinaustrug. Da sagte ich: »Ich fass mal mit an. Dann ist hier im Handumdrehen Klarschiff, und Sie beide können ins Bett gehen.«
    »Nein, nein, stellen Sie die Teller wieder hin! Sie können sich doch für uns nicht die Finger schmutzig machen! Gleich wenn Sie Ihre Suppe getrunken haben, ab mit Ihnen, nach Hause! Ihr Sohn wartet bestimmt schon auf Sie.« Dann drückte Minguang die Zigarette aus, die sie gerade erst angemacht hatte, zauberte wie aus dem Nichts eine Schürze hervor und band sie sich um. »Das geht ganz fix. Bis Sie aufgegessen haben, sind wir mit den vier Tischen fertig.«
    Sie hatte vollkommen recht. Als ich den Boden meiner Suppenschale sehen konnte, war der kleine Raum blitzblank und für den kommenden Tag vorbereitet, obwohl ich sicher war, dass sich in der Küche das schmutzige Geschirr türmte. Ich verabschiedete mich mit dem Gefühl, dass die beiden in dieser Nacht kein Augen zutun würden.
    Es war schon nach halb zwei Uhr morgens, als ich nach Hause kam. Mein dreieinhalb Jahre alter Sohn Panpan schlief, das Gesicht schweißnass. Seine junge
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(ein Haus- bzw. Kindermädchen) Fen saß am Fenster und fächelte sich Luft zu. Sie sah mich besorgt an und fragte: »Warum kommen Sie so spät, Schwester Xinran? Haben die Hörer noch so lange mit Ihnen über ihre Probleme geredet?«
    »Nein, ich dusche schnell, und dann erzähl ich dir alles, ja? Die Wohnung ist ja der reinste Backofen. Warum hast du die Klimaanlage nicht an?«
    »Ich kann es aushalten, und Panpan ist so klein. Sobald er eingeschlafen ist, macht ihm die Hitze nichts mehr aus. Dadurch sparen wir ein bisschen Geld, und Sie müssen nicht mehr so viel für Ihre Sendungen arbeiten und noch dazu schreiben und unterrichten.«
    »Ach Fen, Geld sparen ist doch nicht alles im Leben. Es wäre doch besser für dich, wenn du ein paar Stunden gut schlafen würdest, damit du dich am nächsten Morgen richtig frisch fühlst«, hielt ich ihr vor, während ich meinen Pyjama holte.
    »Sie können mit Ihrer Ausbildung Geld verdienen. Ich bin nicht so schlau. Ich kann nur mit meinen Händen und Füßen Geld verdienen. Wenn ich etwas Geld für Sie sparen kann, dann gehört ein bisschen Schweiß zu meiner Arbeit dazu.«
    In Wahrheit, dachte ich, während ich unter der Dusche stand, lernen wir in den paar Jahren Schule doch nur, mit An- und Verkauf unseren Lebensunterhalt zu bestreiten. Das ist doch viel primitiver und unwürdiger als die Arbeit, die diese jungen Wanderarbeiterinnen leisten. Sie tun, was sie können, um für uns Geld zu sparen, und das aus reiner Herzensgüte. Leider werden ihre Ehrlichkeit und ihr guter Wille kaum anerkannt oder belohnt.
    Fen war seit achtzehn Monaten bei uns. Ich hatte sie über das Arbeitsamt gefunden. Genau wie Kumei konnte auch sie eine herzzerreißende Geschichte erzählen: Sie war erst seit drei Monaten verheiratet gewesen, als ihnen das kleine strohgedeckte Häuschen, in dem sie mit ihrem Mann lebte, durch Enteignung weggenommen wurde, um der Shanghai-Nanjing-Schnellstraße Platz zu machen. Weder für das Haus noch für das Grundstück erhielt das Paar eine finanzielle Entschädigung, und so hatten die beiden keine Unterkunft und keine Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
    Zu dem Zeitpunkt war Fen im achten Monat schwanger und magerte von Tag zu Tag mehr ab. In seiner Verzweiflung brach ihr Mann in ein Lebensmittellager ein und stahl zwanzig Eier und zwei Kilo Süßkartoffeln. Zu seinem Pech drang in derselben Nacht auch eine Bande von Berufsdieben dort ein, und am nächsten Tag gab die staatliche Sicherheitsbehörde eine scharf formulierte Bekanntmachung heraus, in der sie die Diebe

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