Wolkentöchter
kalten Nudeln zu essen oder einen eiskalten grünen Tee zu trinken. Aber anders als meine Nanjinger Mitbürger setzte ich mich nur ganz selten mal bei einem Teller Meeresschnecken mit Freunden zusammen, um bis in die frühen Morgenstunden zu plaudern. Hier konnte ich anonym bleiben, und genau das war mein Wunsch. Hier hatte ich meinen Freiraum, ohne die endlosen lästigen Pflichten, die mich im Berufsleben belasteten.
In so einer Nacht im Hochsommer versuchte Kumei zum ersten Mal, sich das Leben zu nehmen.
In dem Gebäude, in dem ich arbeitete, wurde der Strom nachts abgeschaltet, so dass auch die Klimaanlage ausging. Nur in meinem Sendestudio wurde die Temperatur rund um die Uhr kontrolliert. Zudem waren Türen und Fenster zum Schutz gegen Wind und Regen immer geschlossen, und als ich an jenem Abend das Studio verließ, schlug mir eine fast unerträglich schwüle Hitze entgegen.
Ich beschloss, zum Tiny Home Chef zu fahren, wo ich noch eine Kleinigkeit essen und mich abkühlen konnte. Außerdem wollte ich meinem Verstand etwas Erholung gönnen, weil mir nach der Sendung immer noch tausend Gedanken durch den Kopf schwirrten und ich sonst die ganze Nacht wach gelegen und nur noch mit den Sternen hätte reden können. Damals hatte ich ein Motorrad – ich war eine der ersten Frauen in China, die eins fuhren. Als ich in die kleine Straße einbog, machte ich den Motor aus, um die Nachbarn nicht zu stören.
Im Tiny Home Chef brannte überall Licht. Das war ungewöhnlich, und ich vermutete, dass sie an dem Abend irgendeine Familienfeier gehabt hatten, die wohl gerade zu Ende gegangen war. Bei solchen Veranstaltungen blieb das Lokal normalerweise für andere Gäste geschlossen. Ich war enttäuscht und wollte mein Motorrad gerade wenden, als Minguang in der Tür auftauchte und leise rief.
»Xinran! Bitte kommen Sie rein!«
»Ich will nicht weiter stören. Gehen Sie ruhig schlafen!«, sagte ich, während ich meine Maschine bereits herumdrehte, um zu demonstrieren, dass es mir wirklich ernst war und ich nicht nur höflich sein wollte.
»Es ist was passiert!« Minguang klang panisch.
»Was denn?« Ich wendete das Motorrad erneut und schob es zur Tür des Lokals.
»Bitte kommen Sie rein! Ich bin ganz verstört und hab eben noch gedacht, dass Sie vielleicht noch auf ein Schwätzchen vorbeischauen. Ich hole Ihnen etwas eisgekühlte Mungobohnensuppe.« Sie wartete gar nicht erst ab, ob ich ja oder nein sagte, sondern verschwand gleich Richtung Küche.
Offensichtlich war im Lokal eine Geburtstagsparty gefeiert worden – für ein kleines Mädchen. Alles war rosa geschmückt, und über den Essensresten auf den Tischen lagen kleine bunte Papierdekorationen. Minguangs Ehemann war stumm dabei aufzuräumen. Ich hatte kaum je ein Wort mit ihm gewechselt, weil er mir praktisch nie Gelegenheit gegeben hatte, mit ihm zu plaudern. Das höchste der Gefühle, was ich von ihm als Antwort bekam, wenn ich ihn etwas fragte, war ein knappes »Ja« oder »eine Portion haben wir noch« oder »nichts mehr von da« oder »weiß nicht«. Dann hieß es gleich »danke« und »auf Wiedersehen«.
Minguang kam rasch mit der Schale eisgekühlter Mungobohnensuppe zurück. »Ich hab zwei Stück Zucker reingetan. Das wird Sie erfrischen.«
»Wo ist denn Kumei? Hat sie einen freien Tag?«, fragte ich beiläufig, als ich die Schale entgegennahm. »Die Feier muss ja richtig lang gedauert haben. Wir haben schon fast halb eins, und Sie sind immer noch beim Aufräumen. So ein Lokal macht ganz schön viel Arbeit, was?«
»Kumei ist ins Krankenhaus gebracht worden. Meine Nichte Ying ist bei ihr.« Minguang seufzte und zündete sich zerstreut eine Zigarette an.
Der Suppenlöffel war schon auf halbem Weg zu meinem Mund gewesen. Jetzt legte ich ihn wieder hin und starrte sie an. »Aber wieso? Was ist passiert?«
»Sie hat versucht, sich umzubringen«, sagte Minguang widerwillig und blies einen Rauchkringel in die Luft.
»Sich umzubringen? Hier? Heute? Um Himmels willen, warum denn?« Ein Frösteln durchlief mich. Minguangs Mann, der meine Fragen mitbekommen hatte, hörte mit dem Aufräumen auf und setzte sich. Händeringend sagte er: »Wir wissen es nicht.«
»Aber wie ist es passiert? Haben Sie die Polizei verständigt?«
»Wir wissen gar nichts«, sagte Minguang. »Was sollen wir der Polizei denn erzählen? Vor der Geburtstagsfeier ging es ihr noch gut. Sie hat anstandslos ihre Arbeit gemacht. Sie hat sogar noch gesagt, wie niedlich das kleine Mädchen
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