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Wolkentöchter

Wolkentöchter

Titel: Wolkentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xinran
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Chance, deine Meinung zu äußern. Überlegen Sie doch mal … Wie viele Frauen bringen sich um, nachdem sie Schwiegermütter geworden sind? Die Leute aus der Stadt sagen immer, Männer und Frauen sind gleich, aber auf dem Land glaubt das kein Mensch. Natürlich wird Kumei ihrer Chefin nicht erzählen, was los ist. Das würde sie niemals wagen. Sie denkt, dass Minguang sie dann für verrückt halten wird und sie loswerden will.
    Wir können nicht lesen und schreiben, und deshalb sind wir einfach anders. Ich lebe nun schon eine Weile bei Ihnen, aber wenn ich höre, wie Sie am Telefon mit Ihren Bekannten plaudern, dann verstehe ich Sie noch immer nicht. Oder die Sache mit dem Bügeln. Wir hängen die Wäsche einfach zum Trocknen raus und lassen sie von Wind und Sonne glätten. Warum soll man da Geld für Strom ausgeben und eigentlich ganz ansehnliche Sachen platt bügeln? Ich versteh das nicht … Sogar Baumrinde hat Furchen. Das sieht hübsch aus und fühlt sich gut an. Ein Baum mit einem völlig glatten Stamm wäre doch hässlich, oder? Und so ist das auch mit Anziehsachen. Jedenfalls, wenn Sie wirklich wissen wollen, was für Probleme Kumei hat, wenn Sie wirklich wollen, dass sie es sich von der Seele redet, dann müssen Sie ihr klarmachen, dass sie nicht dumm ist.«
    Ich fing an, Sachen für meinen Sohn rauszulegen. »Wie kann ich sie dazu bringen, mir zu vertrauen? Was würdest du an meiner Stelle tun?«, fragte ich Fen ernsthaft.
    »Was ich tun würde? Seite an Seite mit ihr arbeiten? Sie ein paar Tage hier bei uns wohnen lassen? Ich weiß es wirklich nicht …« Fen hatte Wäsche gefaltet. Jetzt hielt sie inne.
    »Vertraust du mir?« Sobald ich die Frage ausgesprochen hatte, bereute ich sie auch schon. Natürlich würde sie beteuern, dass sie mir vertraute. Hastig schob ich nach: »Warum vertraust du mir?«
    »Weil Sie gern Sachen von mir lernen, zum Beispiel, als ich Ihnen beigebracht hab, wie man Pfannkuchen macht. Da war ich so stolz, dass ich etwas konnte, was Schwester Xinran nicht konnte. Oder als Sie mich gebeten haben, Ihnen das Lied
Freunde
beizubringen. Ich dachte mir, so eine bekannte Radiomoderatorin kann nicht mal ein Lied singen, wie schade! Immer, wenn ich Ihnen irgendwas beigebracht habe, hab ich Ihnen vertraut.«
    Bis zu dem Moment hatte ich nicht erkannt, was »Vertrauen« eigentlich bedeutete, und später habe ich Fens Erklärung oft im Rahmen meiner Arbeit nutzen können. Indem ich zur Schülerin wurde, konnte ich lernen, wie Bauern redeten und wie sie Dinge mit eigenen Händen herstellten. Auf diese Weise bekam ich auch mit, was viele Frauen wirklich dachten.
    Zwei Wochen vergingen, dann war ich wieder im Tiny Home Chef. Die kränkliche Blässe auf Kumeis Wangen war einem gesünderen Rosa gewichen, und als ich mit Minguang sprach, erwähnte sie nichts mehr von ihren Bedenken. Ich dachte, Kumei hätte sich ins Stadtleben eingefunden wie schon zahllose andere Frauen vom Land und dadurch den Schmerz ihrer Vergangenheit hinter sich lassen können. Doch eines Nachmittags erhielt ich eine Nachricht von Minguang auf meinem Pager: »Bitte, Xinran, kommen Sie in die Notaufnahme, Volkskrankenhaus! Ich flehe Sie an!«
    Ich wusste, es musste etwas Ernstes sein – Minguang war eine starke Frau, die nur im absoluten Notfall »flehen« würde. Ich sprang auf mein Motorrad und war eine halbe Stunde später im Krankenhaus, wo Minguang neben einem Bett auf und ab tigerte, in dem Kumei schlief, das Gesicht aschfahl auf dem weißen Kissen.
    »Xinran! Wie lieb, dass Sie gekommen sind! Schauen Sie nur! Schauen Sie sich das an – die ganze Zeit ging es ihr gut, und dann versucht sie wieder, sich umzubringen! Sie will nicht weg von hier, aber sie will auch nicht hier leben. Was tut sie mir nur an? Ich verkrafte solche Schocks nicht mehr. Diesmal muss sie gehen, ich höre jetzt auf, eine gute Frau zu sein. In ihrem Heimatort gibt es kein einziges Telefon, und Ying reagiert nicht auf ihren Pager. Ich weiß überhaupt nicht, wo das Mädchen steckt!« Minguang wirkte völlig aufgelöst, und in ihrer Stimme lag eine hilflose Angst.
    »Wann ist sie eingeliefert worden?«, fragte ich, um Näheres zu erfahren.
    »Heute Morgen war ich unterwegs, auf einem Autorentreffen. Als sie mittags noch immer nicht aufgestanden war, hat mein Mann nach ihr gesehen. Er fand sie bewusstlos auf dem Boden, in ihrem Erbrochenen. Er hat gleich den Krankenwagen gerufen und dann mich geholt. Mal ganz abgesehen von dem Geld, das uns das

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