Wolkentöchter
aufforderte, sich zu stellen. Aus lauter Angst tat der Ärmste wie geheißen. Zwar konnte die Polizei sich denken, dass er ohne Komplizen nicht ein ganzes Lebensmittellager hätte ausräumen können, aber sie verkündete trotzdem voller Stolz, der Fall sei gelöst und der Verhaftete sei der ›Bandenchef‹. Er wurde zu einer Gefängnisstrafe von vierundzwanzig Jahren verurteilt, und Fen und sein gerade mal einen Monat alter Sohn blieben allein zurück. Fen fuhr mit dem Säugling sogar in die Kreisstadt und fragte, ob sie ihrem Ehemann seinen neugeborenen Sohn zeigen dürfe, doch die Erlaubnis wurde ihr verweigert.
Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich an die Eltern ihres Mannes zu wenden und sie um Hilfe zu bitten. Die beiden Alten sagten, sie würden den Kleinen aufziehen, weil er ja schließlich ihr Enkel war. Aber sie könnten nicht auch noch ihre Schwiegertochter aufnehmen und die nächsten vierundzwanzig Jahre durchfüttern. Fen war wütend über diese ungerechte Behandlung. Mit dem letzten bisschen Geld, das sie für den Notfall zurückgelegt hatte, besorgte sie sich umgehend einen Wanderarbeiterausweis und kaufte die billigste Busfahrkarte nach Nanjing. Als ich sie sah, kaute sie auf einem trockenen Stück Brot, und die resolute Art, mit der sie das tat, überzeugte mich, dass sie bestimmt eine gute Haushaltshilfe wäre. Arbeitskräfte, die über das Arbeitsamt vermittelt werden, sind inzwischen auch unfallversichert, also nahm ich sie mit zu mir nach Hause.
Ich wurde nicht enttäuscht: Alles, was sie bereits konnte, machte sie gut, und was sie noch nicht konnte, lernte sie mit großem Eifer. Aber vor allem war sie eine von Grund auf gute Seele, so gut, dass es mich manchmal verlegen machte. Wenn sie zum Beispiel in den Sender kam, weil sie irgendwas mit mir zu besprechen hatte, konnte es vorkommen, dass sie einen muffigen, verschwitzten Trainingsanzug, den ein Kollege über einen Stuhl gehängt hatte, zum Waschen mit nach Hause nahm, als wäre das das Selbstverständlichste von der Welt. Anschließend bat sie mich, das gute Stück mit zur Arbeit zu nehmen und unauffällig wieder dorthin zu hängen, wo sie es gefunden hatte. Aber die jeweiligen Besitzer reagierten oft erbost. Sie fürchteten, die Landpomeranze würde sich nicht an die Waschanleitung halten und ihnen die Markensportsachen ruinieren, für die sie zwei Monatsgehälter hingeblättert hatten. Ich versuchte, Fen das behutsam beizubringen, aber sie verstand die Empörung meiner Kollegen nicht. Sie meinte: »Eine gute Fee vollbringt ihre guten Werke immer heimlich. Auch wenn Ihre Kollegen sich beklagen, in Wahrheit freuen sie sich. Ist ja auch klar, schließlich hat ihnen ja jemand geholfen. Hören Sie nicht auf sie, Schwester Xinran, ich kenn mich da aus!« Letztendlich musste ich mir eine kleine Notlüge einfallen lassen – die Sicherheitsbestimmungen seien verschärft worden und Angehörige dürften nicht mehr in den Sender kommen –, um Fen davon abzuhalten, weiter gute Werke zu tun.
Nachdem ich in jener Nacht geduscht hatte, erzählte ich Fen in groben Zügen, was ich nach der Arbeit noch erlebt hatte. Dann stellte ich die Klimaanlage an und ging in mein Schlafzimmer. Ehe Fen die Tür zu ihrem Zimmer schloss, hörte ich sie murmeln: »Oje, noch eine Frau, die schweres Leid mit sich herumschleppt!«
Am nächsten Tag wurde ich in ein entlegenes Dorf geschickt, um über den Fall einer Frau zu berichten, die schwer misshandelt worden war. Ich blieb drei Tage dort, und die Gedanken an Kumei traten in den Hintergrund. Zu dieser Zeit erhielt ich in der Redaktion fast jede Woche Briefe oder Anrufe, die von Wanderarbeiterinnen berichteten, die genau wie Kumei versucht hatten, sich das Leben zu nehmen, aber in meinem persönlichen Umfeld in Nanjing hatte ich noch von keinem solchen Fall gehört. Natürlich sah ich täglich Tagelöhner, die vom Land in die Stadt gekommen waren. Ärmlich gekleidet und wettergegerbt, lebten sie praktisch auf der Straße, blieben für sich und arbeiteten still und leise rund um die Uhr. Sie bildeten die unterste Klasse der urbanen Gesellschaft. Aber wir Übrigen, mich selbst eingeschlossen, waren so damit beschäftigt, mit den dramatischen Veränderungen Schritt zu halten, die sich in unserem Leben und in der Welt um uns herum ereigneten, dass wir die Masse der Wanderarbeiter und ihre kläglichen Lebensumstände einfach übersahen. Nur wenn irgendetwas passierte, das Frauen wie Kumei und Fen ins Rampenlicht
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