Wolkentöchter
rückte, nahmen die Bürger, denen es gutging, die Menschen, die bis dahin förmlich unsichtbar waren, überhaupt erst wahr. Das bedeutete aber noch lange nicht, dass sie auch den Wert dieser Menschen anerkannten.
Über eine Woche war vergangen, als ich das nächste Mal ins Tiny Home Chef kam. Kumei lächelte mich matt an und widmete sich dann gleich wieder ihrer Arbeit. Minguang sah erschöpft aus. Sie warf der bleichen jungen Frau einen verstohlenen Blick zu und sagte dann leise zu mir: »Gestern Nacht hab ich plötzlich Angst bekommen, ich weiß selbst nicht, warum. Also bin ich leise runtergeschlichen, um nachzusehen, was sie macht. Und bei Gott, ich kam gerade noch rechtzeitig. Sie saß im Dunkeln und trank irgendwas aus einer Plastikflasche. Ich hab sie angeschrien, sie soll damit aufhören, und hab ihr die Flasche weggenommen. Als ich das Licht anmachte und ihr Gesicht sah, war ich entsetzt. Noch nie hab ich eine solche Traurigkeit gesehen, ich kann Ihnen das gar nicht beschreiben.
Ich hab sie gefragt, was denn eigentlich mit ihr los ist, aber ich hab kein Wort aus ihr rausbekommen. Ich habe stundenlang bei ihr gesessen, aber sie hat bloß geweint und geweint und wollte nicht reden. Schließlich hab ich vor Übermüdung einfach eine Decke auf einem von unseren Tischen ausgebreitet und mich hingelegt, und irgendwie haben wir die Nacht gemeinsam überstanden. Ich glaube, sie hat überhaupt nicht geschlafen, hat sich die ganze Nacht hin und her gewälzt. Heute Morgen dann hatte ich wirklich die Nase voll. Wenn sie mir nicht erzählen will, was los ist, dann heißt das doch wohl, dass sie mich nicht respektiert, oder?
Ich hab Ying angerufen und ihr gesagt, dass sie herkommen und mit Kumei reden soll, sonst würde ich ihr kündigen. Ying ist dann heute Nachmittag gekommen, und das Lokal war leer, also hat sie Kumei in eine Ecke gezogen, und die beiden haben miteinander getuschelt. Schließlich, als wir schon dabei waren, das Abendessen vorzubereiten und ich das Gemüse putzte, kamen sie beide zu mir, und Kumei ist vor mir auf die Knie gefallen und hat gesagt: ›Bitte verzeihen Sie mir, bitte schicken Sie mich nicht nach Hause!‹
So was hab ich mein Lebtag noch nicht erlebt … Ich hab sie hochgezogen, aber ich wusste wirklich nicht, was ich sagen sollte. Dann hat Ying sich eingeschaltet: ›Eigentlich will Kumei damit sagen, dass es da etwas gibt, womit sie einfach nicht fertig wird, aber es hat nichts mit euch beiden zu tun. Ihr seid immer sehr gut zu ihr gewesen, tausendmal besser als ihre eigene Familie. Hab ich recht, Kumei?‹ Kumei hat heftig genickt, als hätte sie Angst, ich würde ihr nicht glauben.
Ying musste wieder zurück, um ihr Lokal aufzumachen, und ich hatte Gäste, also hab ich nichts weiter gesagt. Wir hatten heute Abend wahnsinnig viel zu tun, und Kumei hat sich benommen, als wäre nichts passiert – sie war so flink und tüchtig wie sonst auch. Mein Mann hat zweimal zu mir gesagt: ›Wir sollten sie behalten, sie ist so gut.‹ Xinran, wenn ich sehe, wie blass und mager sie ist, dann wird mir irgendwie mulmig. Ich würde sie wirklich gern behalten, aber dann krieg ich es wieder mit der Angst. Es ist gar nicht so leicht, gut zu sein. Ich denke, in ein paar Tagen schau ich mich nach einer anderen Hilfe um. Diesmal will ich eine richtige Quasselstrippe, auch wenn ich mich dann bestimmt mit ihr streite, aber zumindest wird sie nicht so sein wie Kumei, bei der ich ständig wie auf glühenden Kohlen sitze, weil ich nicht weiß, ob sie noch lebt.«
Als ich an jenem Tag nach Hause ging, erzählte ich Fen, was Minguang gesagt hatte. Auch Fen trug ihr Herz nicht gerade auf der Zunge, und sie half mir oft, Menschen zu verstehen, denen etwas auf der Seele lag, die es aber nicht über sich brachten, mit jemanden darüber zu reden.
Als ich zu Ende erzählt hatte, hob Fen eine Hand ans Herz und machte mit der anderen eine Geste der Hilflosigkeit: »Schwester Xinran, ihr Städter redet über alles miteinander, aber wir auf dem Land sind da anders. Wir lachen und reden nicht laut, vor allem die Frauen nicht, und erst recht die nicht, die keinen Sohn geboren haben. Wenn du keinen Sohn und Erben vorweisen kannst, der den Fortbestand der Familie sichert, dann ist selbst die Hölle für dich noch zu gut. Und selbst wenn du einen Sohn geboren hast, hast du noch immer kein Recht, den Mund aufzumachen, solange du bei deinen Schwiegereltern lebst. Erst wenn du selbst Schwiegermutter bist, hast du die
Weitere Kostenlose Bücher