Wolkentöchter
kostet, es ist jedes Mal ein Schock, und ich schaff das nicht mehr. Ich hab meinem Mann gesagt, wir schließen das Lokal für ein paar Tage. Dann sehen wir weiter … Wir müssen der Sache auf den Grund gehen, sonst …«
»War gestern Abend irgendwas anders als sonst?«, fragte ich, bemüht, irgendeine Erklärung zu finden.
»Es schien ihr gutzugehen. Wir hatten eine Geburtstagsfeier im Lokal, und das Geburtstagskind hat ihr sogar ein Stück Kuchen geschenkt.«
Kumei schlief besinnungslos, wahrscheinlich hatte sie noch nie in einem so bequemen Bett gelegen. Sie sah aus, als schwebte sie irgendwo zwischen Leben und Tod.
Ich ging zu der zuständigen Ärztin, die mir sagte, dass Kumei überleben würde, aber eine schwere Magenblutung gehabt habe. Offensichtlich hatten die Chemikalien in den Reinigungsmitteln, die sie geschluckt hatte, ihr den Magen verätzt. »Warum hat sie das gemacht?«, fragte sie mich.
»Ich weiß es nicht. Vielleicht …« Doch ich hatte tatsächlich nicht die geringste Ahnung, warum.
Kumeis Leid und Minguangs Hilflosigkeit wühlten mich zutiefst auf. Hier ging es nicht darum, ob Kumei gebildet oder ungebildet war. Tatsache war, wenn eine Frau beschloss, sich das Leben zu nehmen, bedeutete das fraglos, dass sie furchtbare Probleme hatte und sie nicht lösen konnte. Ich hatte das Gefühl, dass ich zumindest versuchen sollte, ihr zu helfen. Also ging ich zum öffentlichen Telefon des Krankenhauses und rief Fen an. Ob sie bereit wäre, mir dabei zu helfen, Kumei bei uns zu Hause zu pflegen, fragte ich sie. »Natürlich!«, antwortete sie. »Sie sind ständig unterwegs, um Menschen auf dem Land zu helfen. Jetzt hab ich mal die Gelegenheit, jemandem in der Stadt zu helfen.«
Als ich Minguang erzählte, was ich mir überlegt hatte, fiel sie vor Dankbarkeit praktisch auf die Knie, um mir die Füße zu küssen.
»Xinran, wenn Sie Kumei ein paar Tage bei sich aufnehmen und sich mit der Hilfe Ihrer
a-yi
um sie kümmern, wäre ich Ihnen ewig dankbar. Aber ich will ganz ehrlich sein. Ihnen ist doch wohl klar, dass Kumeis Schicksal, sobald sie hier rauskommt, in Ihren Händen liegt und ich nichts mehr damit zu tun habe? Das ist keine Geschichte in einem Buch, das ist eine schwere Verantwortung. Haben Sie sich das gut überlegt? Falls nicht, werde ich nur die Kosten hier begleichen und Kumei dann zum Arbeitsamt bringen. Damit bleibt uns ein weiterer Schock erspart. Es ist kaum möglich, sich ihr gegenüber anständig zu verhalten. Denken Sie noch mal richtig drüber nach …«
»Ist schon gut«, fiel ich ihr ins Wort. »Ich will es versuchen. In meiner Sendung bringe ich so viele Geschichten von und über Frauen, und manchmal fassen Frauen neuen Mut, wenn sie hören, dass es anderen ähnlich ergeht und sie nicht völlig allein sind und keiner je von ihnen erfährt. Und wo es Hoffnung gibt, da gibt es auch einen Weg. Meine
a-yi
hat in jungen Jahren auf dem Land ein schweres Leben gehabt. Vielleicht verstehen sich die beiden gut, und Kumei kann sich leichter öffnen.«
In dem Moment schlug Kumei die Augen auf. So dehydriert, wie sie inzwischen war, sah sie aus, als starre sie uns aus einer dürren Wüste heraus an. Sie hatte geweint, bis sie keine Tränen mehr hatte. Unwillkürlich rutschte mir die Frage heraus: »Warum …«
Kumei gab keinen Laut von sich, sondern schloss nur elendig die Augen. Aber dann öffnete sie sie mit einem entschlossenen Ruck wieder, setzte sich auf und wollte aus dem Bett steigen. Völlig verblüfft machten Minguang und ich keinerlei Anstalten, sie aufzuhalten, auch als sie sich die Schuhe anzog. Aber dann hielten wir sie an beiden Armen fest, weil sie fast zu Boden stürzte.
»Ich rufe die Ärztin. Falls sie sagt, dass Kumei entlassen werden kann, nehme ich sie mit zu mir«, sagte ich zu Minguang und eilte zum Ärztezimmer. Als ich vierzig Minuten später mit dem Entlassungsbrief zurückkam, saßen Minguang und Kumei stumm auf der Bettkante.
Auf der Fahrt im Taxi zu mir nach Hause wirkte Kumei extrem verängstigt. Offensichtlich hatte sie noch nie in einem Auto gesessen, aber zum Glück war es nur eine kurze Strecke. Als wir in der Wohnung ankamen, hatte Fen schon ein Klappbett in ihrem Zimmer aufgestellt und war dabei, die Möbel so umzuräumen, dass es aussah, als hätten sie schon immer so gestanden. Ich gab Kumei in ihre Obhut und nahm ein Taxi zurück zum Krankenhaus, wo noch immer mein Motorrad stand. Von dort fuhr ich zum Kindergarten, um Panpan abzuholen.
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