Wolkentöchter
einen Sohn zu bringen. Nur so würden sie erhobenen Hauptes leben können, und seine Sippe hätte eine Zukunft. Doch Gott erhörte seine täglichen Gebete nicht, und seine Frau brachte in siebeneinhalb Jahren vier Töchter zur Welt.
Er schaute aus dem Fenster und sagte tonlos: »Wir sind seit siebeneinhalb Jahren auf der Flucht, wir haben China der Länge und Breite nach durchquert. Kurz nach der Geburt des ersten Mädchens wurde meine Frau wieder schwanger. Als ihr Bauch dicker wurde, fingen die Leute an, sie zu beäugen und zu sagen: ›Ihr wollt doch nicht etwa ein Zusatzkind haben, oder?‹ Wir mussten ständig unterwegs sein, damit uns die Beamten vom Familienplanungsbüro nicht schnappten und zwangen, einen Jungen abzutreiben.«
»Sagten Sie nicht eben, dass alle vier Kinder Töchter waren?«
»Ja, aber jedes Mal hofften wir, es würde der Junge werden, den wir uns wünschten«, sagte er gereizt, weil ich ihm nicht so schnell folgen konnte. Auf diesen Gedanken war ich gar nicht gekommen.
»Aber warum müssen Sie Ihre Töchter aussetzen? Manche Leute, die wie Sie durchs Land ziehen, nehmen doch ihre Kinder mit.«
»Die Kinder mitnehmen? Wenn es nicht das Erstgeborene ist, wo wollen Sie das Kind dann zur Welt bringen? Sie können eine Geburtserlaubnis kaufen – für zigtausend Yuan –, aber woher sollen wir so viel Geld nehmen? Ich werde nie vergessen, wie verstört meine älteste Tochter war, als die Familienplanungsbeamten hereingestürmt kamen, um nach ihrer Mutter zu suchen. Die Beine haben ihr gezittert wie verrückt. Wenn man mit einem Kind unterwegs ist, braucht man Geld, um Essen und Kleidung für Mutter und Kind zu kaufen. Wenn die Mutter nicht isst, kann das Baby in ihrem Bauch nicht gedeihen, und wenn die Mutter isst, was soll dann das Kind essen?«
»Sie haben Geld für die Zugfahrkarten, wieso haben Sie dann keins für Essen?«
»So einfach ist das nicht. Bitte lassen Sie mich ausreden! Nachdem die Kinderhändler unsere älteste Tochter mitgenommen hatten, war ich am Boden zerstört. Und meine Frau hat drei Monate lang nur geweint. Sie hatte keine Milch mehr, als die zweite Tochter zur Welt kam. Das Baby wäre fast verhungert. Wir haben es durchgebracht, indem wir ihm Reiswasser eingeflößt haben«, sagte der Mann mit heiserer Stimme. »Als meine Frau das dritte Mal schwanger wurde, haben wir lange hin und her überlegt und dann beschlossen, die zweite Tochter in die Großstadt zu bringen. Die Leute dort sind wenigstens einigermaßen gebildet, und, wer weiß, vielleicht würden gute Menschen sie zu sich nehmen.«
»Aber in den Städten wird die Ein-Kind-Politik so streng befolgt. Wie haben Sie es geschafft, nicht erwischt zu werden?«
»Wir können den Teufel sozusagen mit seinen eigenen Waffen schlagen. Aber so was sollte ich nicht sagen, und das hab ich auch nicht gemeint. Ich meine, dass es in den Vororten jede Menge Möglichkeiten gibt, irgendwo unterzukommen und sich auszuruhen. Verlassene Fabriken, alte Lagerhäuser, Materiallager auf Baustellen, wo immer Bedarf an Wachleuten ist. Das bringt nicht viel Geld, aber zumindest muss man nicht draußen schlafen. Meine Frau ist tüchtig und hat für die Wanderarbeiter Wäsche gewaschen und geflickt, um ein bisschen Geld zu verdienen. Kurz vor der Geburt des Babys haben wir ihnen gesagt, wir würden nach Hause fahren, damit das Kind dort zur Welt kommt. Wir haben die billigsten Fahrkarten gekauft, sind so weit weggefahren, wie wir konnten, und in einer kleinen Stadt ausgestiegen, wo uns niemand kannte.«
»Mussten Sie denn keine Geburtserlaubnis vorlegen?«
»Wir sind danach gefragt worden, aber wir haben ihnen einfach etwas mehr Geld gegeben. Außerdem, wir sind Fremde, die Leute wissen, dass wir nicht bleiben werden, also helfen sie einem bei der Geburt.«
»Wie haben Sie einen Arzt gefunden?«
»Unterwegs trifft man viele Leute wie unsereins. Da lernt man schnell alle Kniffe und Tricks. Und an den Strommasten neben den Gleisen hängen Listen mit Leuten, die bereit sind, Babys auf die Welt zu holen und Abtreibungen zu machen. Heutzutage ist die Nachfrage nach solchen Leuten groß, weil doch jeder einen Sohn in der Familie haben will.«
Er sagte die Wahrheit, das wusste ich: Alles, was er erzählte, passte zu Hinweisen, die mir zu Ohren gekommen waren, und zu den wenigen Recherchen, die ich bis dahin hatte anstellen können. Als Arzt konnte man eine einträgliche Nische in der Grauzone zwischen Gesetz und Familientraditionen finden.
Weitere Kostenlose Bücher