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Wolkentöchter

Wolkentöchter

Titel: Wolkentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xinran
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Aber mich interessierte vor allem, was mit seinen Töchtern passiert war. »Dann sind Ihre Töchter alle …«
    Er ließ mich den Satz nicht beenden. »Ja, alle. Wir haben unsere Töchter ausgesetzt, an Straßen oder auf Bahnsteigen, überall in China. Die Sie gesehen haben, war die vierte, und so eine hübsche Kleine.« Seine Stimme erstarb.
    »Machen Sie sich keine Sorgen darüber, was den Mädchen alles passieren könnte?«
    »Was nützt es, sich Sorgen zu machen? Wenn sie Glück haben, überleben sie. Wenn nicht … Mädchen sind dazu geboren zu leiden. Es ist furchtbar, dass sie keine Jungen sind.«
    »Und Ihre Ehefrau? Die ist immerhin auch eine Frau.«
    »Ja, sie wird nicht so damit fertig wie ich. Sie weint fast jede Nacht und sagt, dass sie von den Mädchen geträumt hat. Ich glaub das eigentlich nicht. Wir arbeiten tagsüber so schwer, dass wir keine Zeit für Träume haben.«
    »Wollen Sie weiter auf der Flucht bleiben?«
    »Wenn ich einen Sohn hätte, würde ich schnurstracks nach Hause zurückkehren. Ich konnte ein wenig Geld beiseitelegen, und selbst wenn wir hungern, gehe ich nicht an das Gesparte. Ich warte nur sehnsüchtig auf den Tag, an dem meine Frau es hinkriegt.«
    »Und wenn sie nie einen Sohn zur Welt bringt?« Ich wusste, die Frage war grausam, aber die Möglichkeit bestand nun mal.
    »Wieso? Ich hab noch immer zweieinhalb Jahre. Und wenn es so weit ist, gehe ich nach Hause zurück und werde Oberhaupt unserer Sippe.«
    »Aber Ihre Frau hat so viel gelitten, körperlich und psychisch!«
    »Für eine Frau, die keinen Sohn hat, gibt es nichts, wofür es sich zu leben lohnt. Ich bin gut zu ihr. Vielleicht ist sie unglücklich, aber ich bin auch unglücklich. Wenn wir einen Sohn hätten, würde ich auch ein paar Töchter haben. Ich würde für sie sorgen. Bitte lassen Sie meine Frau in Ruhe, ich flehe Sie an, und bitte melden Sie uns nicht! Wir steigen bei der nächsten Möglichkeit aus, in Ordnung?«
    »Fahren Sie, wohin Sie wollen! Ich werde Sie nicht melden, um Ihrer vier Töchter willen.«
    Als ich zurück zu meinem Platz ging, konnte ich mir seine Frau genauer ansehen. Ihr Gesicht war faltig und von Furchen des Schmerzes durchzogen. Männer werden das emotionale Band zwischen einer Frau und dem Baby, das sie neun Monate lang unter dem Herzen getragen hat, niemals verstehen. Jede Verletzung, die diesem Kind zustößt, ist für die Mutter zehntausendmal schlimmer als ein Schnitt in ihr eigenes Fleisch.
    Ich musste meine Reise fortsetzen. Ich glaube, als wir im nächsten Bahnhof hielten, stiegen der Mann und seine Frau aus und verschwanden in der Menge. Was würde aus dieser Mutter werden, fragte ich mich. Falls sie eine fünfte Tochter gebar, würde sie ihr Baby dann einfach in irgendeinem namenlosen Bahnhof wie diesem zurücklassen, in einer Ecke des Bahnsteigs, auf den Toiletten oder wo? Ich konnte nur beten, dass diese Frau einen Sohn bekam, ehe das tagtägliche Leiden und die Strapazen der Reisen sie umbrachten. Wenn sie den ersehnten Sohn dann endlich hatte, würde er wahrscheinlich liebevoll gewickelt werden, sie würde wieder in den Zug steigen und triumphierend in das Dorf ihres Mannes heimkehren. Es war kaum zu glauben.
    Vor meinem geistigen Auge sehe ich noch immer die vierte Tochter des Mannes, wie sie ihre kleinen »Orchideenfinger« macht …
    Während ich diese Zeilen in Sydney schreibe, sitzen auf dem Dach des Nachbarhauses zwei wunderschöne grüne Papageien mit orangegelber Brust und füttern ihr Junges. Wenn Vögel so empfinden können und ihre Kinder niemals verlassen würden, wie bringen es dann Menscheneltern übers Herz, ihre eigenen Kinder im Stich zu lassen? Wieder und wieder. Ich kann und will nicht glauben, dass veraltete Traditionen in Verbindung mit staatlichen Vorschriften ein menschliches Wesen wirklich dazu zwingen können, das schönste und ursprünglichste aller menschlichen Gefühle aufzugeben: den Elterninstinkt. Es sollte nicht möglich sein, aber es ist möglich.

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    6
    Die Rote Mary aus dem Waisenhaus
    Ich habe nie erfahren, wer ich bin. Meinen Namen haben mir die Missionarinnen im Waisenhaus gegeben. Es war ein ausländischer Name, Mary, aber während der Kulturrevolution, als ich in den Dreißigern war, haben die Roten Garden mich in Rote Mary umgetauft.
     
    D en Dokumenten zufolge, die ich auftreiben konnte, entstanden die ersten chinesischen Waisenhäuser zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, als zum dritten Mal westliche Missionare nach

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