Wolkentöchter
Wie hätte ich denn internationale Nachrichten bringen können, während ich noch im Zug unterwegs war? Sie hätten mir doch einfach eine Nachricht beim Radiosender von Chengdu hinterlassen können. Außerdem hatten die Kollegen in Chengdu sicherlich dieselbe Anweisung erhalten. Es war eine typische Überreaktion der Offiziellen, die demonstrieren wollten, dass sie die Befehle ihrer Vorgesetzten buchstabengetreu ausführten, weil sie Angst hatten, sonst ihre Posten zu verlieren. Heutzutage ist jungen Chinesen und erst recht den Menschen im Ausland nicht mehr bewusst, dass zur Kaiserzeit Beamte aller Dienstgrade dem Kaiser nicht mal den Rücken zuwenden durften, und einen Befehl nicht zu befolgen wäre völlig undenkbar gewesen.
Während ich mich auf dem Rückweg zu meinem Platz durch die überfüllten Waggons schob, dachte ich noch immer darüber nach, wie schwierig es war, als Journalistin gute Arbeit zu leisten, wenn einem solche willkürlichen Restriktionen dabei in die Quere kamen.
Plötzlich wollte es eine Laune des Schicksals, dass ich praktisch Auge in Auge vor dem Vater des kleinen Mädchens stand. Er saß neben einer hochschwangeren Frau, eine Reisetasche in der Hand. Als er mich bemerkte, wirkte er zu Tode erschrocken. Wir starrten einander stumm an.
»Wo ist Ihre Tochter?«
»Sie …«
»Sie was?« Auf einmal fiel bei mir der Groschen. Ich war entsetzt. Er hatte sie doch wohl nicht im Bahnhof Xi’an zurückgelassen? Aber es war unübersehbar, dass seine Frau ein weiteres Kind erwartete, und wenn sie schon eine Tochter hatten, konnten sie nirgendwohin. Das Familienplanungsbüro würde sie suchen und streng bestrafen. Hatten diese Eltern ihre kleine Tochter tatsächlich mitten in der Nacht in der Fremde ausgesetzt? Ich wollte es nicht glauben …
Ich sah den Eltern an, dass sie nicht wussten, was sie sagen oder machen sollten. Mir wurde heiß im Gesicht, und ich war kurz davor, sie anzuschreien: Wie könnt ihr euer eigenes Kind im Stich lassen? Sie ist noch so klein, wie soll sie überleben? Habt ihr mal darüber nachgedacht, welche Angst sie jetzt hat?
Der Mann sah meinen Ausbruch offenbar kommen und stand auf. Er bugsierte mich energisch zur Toilette am Ende des Wagens und schob mich hinein. Dann stellte er sich in die offene Tür, um mir den Weg zu versperren, und sagte leise: »Ich flehe Sie an, Genossin, bitte!«
»Sie … Ihre eigene Tochter – auf einem Bahnsteig zurückzulassen!«, stammelte ich vor Empörung, unfähig, einen zusammenhängenden Satz zu bilden.
»Ja, ich hab ihr ein Dampfbrötchen gekauft. Der Mann, der die verkauft, wird sich um sie kümmern.«
»Kennen Sie ihn?«
»Nein.«
»Woher wollen Sie dann wissen, dass er sich um sie kümmern wird? Sie sind ihr Vater, empfinden Sie denn keine Liebe für sie? Was ist mit den Gefühlen ihrer Mutter?« Kaum hatte ich das ausgesprochen, musste ich daran denken, wie er seine Tochter gestreichelt hatte.
Er sah aus, als wäre er den Tränen nahe. »Sie ist unser Fleisch und Blut. Natürlich lieben wir sie. Aber die Kinder verkraften es nicht, ständig mit uns auf der Flucht zu sein.«
»Kinder? Soll das heißen, Sie haben mehr als ein Kind?« Ich wollte meinen Ohren nicht trauen.
»Sie war das vierte Mädchen, wir …« Seine Stimme wurde so leise, dass ich ihn kaum noch verstehen konnte.
Und so kam es, dass ich auf dieser Zugtoilette zum ersten Mal die Geschichte von »Zusatzkind-Partisanen« hörte. Es ist eine Erinnerung, die mich noch heute mit Schmerz erfüllt.
Der Mann stammte aus einem Dorf in der Provinz Jianxi, das von einer einzigen Sippe beherrscht wurde. Er war der älteste Sohn der Familie, der erste von drei Brüdern. Seit seiner Heirat waren er und seine Frau ständig unterwegs. Als seine Frau im dritten Monat schwanger war, sagten seine Eltern, sie sollten in die Stadt ziehen, weil sie dort eher ein Auskommen finden würden. Und falls das Kind ein Mädchen würde, müssten die Dorfbewohner nie erfahren, dass sie geboren worden war. Das Letzte, was seine Eltern zu ihnen sagten, ehe sie aufbrachen, war: Kommt nicht ohne Enkelsohn zurück! Was sie meinten, war: Beschämt uns nicht, indem ihr uns einen Sohn und Erben verweigert, der den Fortbestand der Familie sichert.
Der Mann wusste, falls seine Frau und er nicht innerhalb von zehn Jahren einen Sohn hervorbrachten, würden ihm das Land und sonstige Privilegien, auf die er als ältester Sohn ein Anrecht hatte, aberkannt werden. Also versprach er, seinen Eltern
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