Wolkentöchter
Tagen tot, und trotzdem brachten die Eltern sie zu uns. Warum, frage ich mich. Besonders zu Beginn des Jahres 1960 waren verhungerte Menschen ein alltäglicher Anblick. Im Winter ging das noch, aber als dann der Sommer kam, war der Gestank der verwesenden Leichen unerträglich. Wir hatten Glück: Uns standen garantierte Lebensmittelrationen zu. Der für die Lebensmittelverteilung zuständige Kader sorgte sehr gut für uns. Später hörten wir, dass er selbst verhungert war. Als wir die Nachricht erfuhren, weinten wir. Heutzutage kann sich kein Mensch mehr vorstellen, wie jemand, der für die Verteilung von Lebensmitteln verantwortlich ist, selbst verhungern kann.
Als die Kulturrevolution begann, holte man mich zu »Kampfsitzungen«, in denen ich meine »Verbrechen« gestehen sollte. Man warf mit folgende vier Verbrechen vor: Erstens, ich hatte eine schlechte Herkunft. (Obwohl ich nicht mal wusste, wer meine Eltern waren – ich wusste gar nichts. Aber die wenigen Dinge, die man mir mitgegeben hatte, als ich ausgesetzt wurde, galten als Beweis.) Zweitens, ich hatte mich auf die Seite der Japaner geschlagen und mich zum Instrument ihrer Propaganda gemacht. (Tatsächlich war ich zu der Zeit, in der ich angeblich als Abgesandte der Marionettenregierung arbeitete, erst sechs oder sieben Jahre alt. Wie hätte ich da wissen können, was das Wort Verräter überhaupt bedeutet? Es war absurd!) Drittens, ich war Dienerin der Religion des US -Imperialismus. (Dabei war ich doch gläubige Christin, nichts anderes.) Viertens, ich war eine Überläuferin, weil ich versucht hatte, vor der Volksbefreiungsarmee nach Süden zu fliehen. Eijeijei! Bei diesen Rotgardisten wusste man nicht, ob man lachen oder weinen sollte. Sie nannten mich Rote Mary und bildeten sich ein, damit hätten sie aus mir eine Revolutionärin gemacht. Dann schickten sie mich zur »Reform durch Arbeit« in ein Lager in der Provinz Hubei. Als dort bekannt wurde, dass ich in einem Waisenhaus gearbeitet hatte, musste ich meine »Reformierung durch Arbeit« im Waisenhaus in einer Kleinstadt bei Jingzhou ableisten.
Die Zustände in dem Haus waren erbärmlich, völlig desolat. Sechs Babys, noch kein Jahr alt, lagen nebeneinander auf einer Matte auf dem Boden ohne irgendwelchen Schutz vor Mücken. Und so was nannte sich Waisenhaus! Eine alte Frau über sechzig kümmerte sich um die Kinder und baute gleichzeitig selbst Gemüse an. Sie ließ die Kinder den ganzen Tag schreien. Meistens fütterte sie sie mit Reisschleim, und anstatt sie ordentlich zu wickeln, spülte sie einfach den Urin und den Kot mit kaltem Wasser von der Matte. Nachts schlief sie mit den Babys zusammengedrängt auf derselben Matte, genau wie sie schutzlos den Moskitos ausgeliefert. Wenn ich daran zurückdenke, treibt es mir heute noch die Tränen in die Augen. So konnte ich nicht leben. Das war kein Waisenhaus, das war eine Kindertötungsanstalt.
Am nächsten Tag ging ich zu dem Kader, der mich dorthin geschickt hatte, und erzählte ihm weinend, in welchem elenden Zustand die Kinder waren. Er war ein Bauer mittleren Alters, und als er mich zu Ende angehört hatte, klopfte er auf den Bambuslattenrost des Bettes, auf dem sie während der heißen Sommermonate schliefen, und sagte: »Heute Nachmittag lasse ich euch zwei Lattenrostbetten rüberschicken – eins für die Babys und eins für dich und sie, und die sollen auch gleich Moskitonetze anbringen. Im Augenblick kann ich keine weiteren Betten erübrigen, also musst du dir eins mit ihr teilen. Und in ein paar Tagen schicke ich euch zwei Mädchen von der Gebildeten Jugend (Schüler, die während der Kulturrevolution zur Arbeit aufs Land geschickt wurden), die sollen euch bei der Arbeit im Garten helfen.« Und genauso kam es. Die alte Frau sagte, es wäre das erste Mal, dass sie je in einem Bett geschlafen hatte. Und als die Schülerinnen dann kamen, wurde die Lage deutlich besser. Sie waren ganz vernarrt in die Babys, und die sechs kleinen Würmchen fingen endlich an, etwas Gewicht zuzulegen. Sie wurden ganz drall und rosig, und alle fanden sie richtig süß. Offenbar waren die Eltern von fünf dieser Kleinen während der Kulturrevolution im Kampf getötet worden, und die sechste war von einem Rotgardisten hergebracht worden, der sie auf dem Feld gefunden hatte.
Das Konzept von Waisenhäusern existierte damals eigentlich nur in den großen Städten. Auf dem Land war es noch ganz selbstverständlich, dass neugeborene Mädchen getötet wurden, und
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