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Wolkentöchter

Wolkentöchter

Titel: Wolkentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xinran
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nicht an Gott. Wir hatten gehört, dass sie die Religion verbieten wollte, weil sie Opium für das Volk sei, und dass Frauen sogar kollektiver Besitz werden sollten. Die Gerüchte, die damals kursierten, waren wirklich beängstigend. Bis auf die Leiterin des Hauses hatte keine von uns irgendwelchen Kontakt zur Außenwelt, und sie erzählte uns nie etwas. Wir waren dazu erzogen worden, ohne zu fragen zu tun, was uns gesagt wurde.
    In einer sehr kalten Nacht des Jahres 1948 rief sie uns alle zusammen und sagte, wir sollten alles vorbereiten für die Flucht nach Süden; es würde bald losgehen. Bereits am nächsten Morgen vor Tagesanbruch bestiegen wir ein Boot. Es war klein, und ich glaube, außer uns war sonst niemand darin. Kurz nachdem wir abgelegt hatten, gerieten wir in ein schweres Unwetter, so dass wir gezwungen waren, in Taizhou in der Provinz Zhejiang Schutz zu suchen. Kaum waren wir an Land, befahl uns die Leiterin, mit niemandem zu sprechen, und falls es wirklich unvermeidbar wäre, sollten wir nicht sagen, aus welchem Waisenhaus wir kamen. Dort wurde ich dann offiziell getauft, aber wir blieben nur einen Monat. Ein großes Boot holte uns ab, und wir wurden weiter in den Süden, nach Fujian, gebracht, um dort auf das nächste Boot nach Hongkong zu warten. Aber es kamen keine Boote mehr, und wir blieben, wo wir waren.
    Kurz darauf wurde China befreit, und die Regionalregierung kümmerte sich so um uns, wie die Wang-Jingwei-Regierung es getan hatte. Wir wurden mit Essen versorgt und in einer Kirche untergebracht. Wir waren Katholiken, aber die Kirche war eine orthodoxe. Wenn ich heute daran zurückdenke, beschleicht mich der Verdacht, dass diese Arbeiter- und Bauernkader keine Ahnung hatten, was ein Kruzifix war. Jedenfalls, damals hörten wir ständig, die nationalistische Kuomintang-Regierung würde einen Gegenangriff aufs Festland planen. Wenn wir einkaufen gingen, sahen wir oft antiamerikanische und antibritische Parolen, die die Kommunistische Partei anbringen ließ. Und manchmal steckten Leute heimlich Propagandaflugblätter der Kuomintang oder eine Rede von Tschiang Kai-schek in unsere Einkäufe. Ich weiß bis heute nicht, warum sie sich alle gegenseitig bekämpften.
    Es dauerte nicht lange, und es kam erneut zu Unruhen. Wer in den dreißiger Jahren den Japanern geholfen hatte oder der Kuomintang in den vierziger Jahren oder wer in der Fünfzigern Antikommunist war, galt als Verräter und musste ausgemerzt werden. Unser Waisenhaus bekam das mit ganzer Härte zu spüren. Die leitende Missionarin wurde verhaftet und starb bald darauf im Gefängnis. Unser »imperialistisch-feudales« Waisenhaus wurde aufgelöst. Ich weiß noch, wir waren ein Dutzend Frauen und vierzehn Kinder im Alter zwischen zwei und zwölf. Diejenigen, die Angehörige hatten, zu denen sie gehen konnten, bekamen ein bisschen Geld und wurden weggeschickt. Ich und noch zwei andere Frauen konnten nirgendwohin. Die kleinen Jungen wurden weggebracht – ich glaube, sie wurden adoptiert, aber damals gab es weder geregelte Abläufe noch Dokumente. Ich denke, die Regierung fing gerade erst an, ihre Bürger aktenmäßig zu erfassen.
    Letztlich bildeten wir drei übrig gebliebenen Mitarbeiterinnen und acht kleine Mädchen eine »Waisengruppe«, die in einer baufälligen alten Werkstatt mit einigen wenigen Räumen untergebracht wurde. Man schickte uns eine Parteisekretärin, und wir wurden offiziell ein »Patriotisches Waisenhaus«. Im Grunde machten wir nichts anderes als vorher auch, nur dass jetzt alles, was irgendeinen religiösen Beigeschmack hatte, aus unserem Alltag verbannt worden war. Aber still und heimlich habe ich weitergebetet. Ich war schließlich mit Gott verheiratet!
    Was die Kinder betrifft … Manche von ihnen heirateten und manche wurden Lehrerinnen. Sie müssen wissen, es gab damals nur wenige, die lesen und schreiben konnten. Schließlich waren nur noch zwei übrig. Zunächst hatten wir alle genug zu essen, genug Kleidung und ein Dach über dem Kopf, doch nach 1957 , in den »drei Jahren Hungersnot«, änderte sich das. Vor allem nach 1959 hörten wir von verhungernden Menschen. Wir hatten seit zehn Jahren keine Babys mehr aufgenommen, aber nun kam es wieder häufiger vor, dass Menschen ihre Kinder bei uns abgaben, und das ging so weiter, bis 1966 die Kulturrevolution begann. Wenn wir dann morgens die Tür des Waisenhauses öffneten, lag manchmal ein Kind davor, das bereits verhungert war. Manche waren schon seit mehreren

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