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Wolkentöchter

Wolkentöchter

Titel: Wolkentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xinran
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armen Frauen vermissen ihre Töchter so sehr. Es ist ihnen egal, wenn Leute blöde Bemerkungen machen, und sie riskieren, vom Familienplanungsbüro mit einer Strafe belegt zu werden, weil sie mehr als nur ein Kind bekommen haben, aber sie kommen trotzdem und erkundigen sich nach ihren Babys. Die Beschäftigten im Waisenhaus haben etwas von der Göttin Guanyin in sich und sind mitfühlend, deshalb halten sie den Mund. Manche von diesen bedauernswerten Frauen verlieren förmlich den Verstand vor lauter Sehnsucht nach ihren Babys. Oh ja! Es ist nicht zu beschreiben.
    Ich denke oft, wenn meine eigene Mutter einen anderen Weg gesehen hätte, hätte sie mich nicht in ein Waisenhaus gebracht. Als junge Mitarbeiterin im Waisenhaus hatte ich keine großartigen Gefühle, was die Kinder anging, mit denen ich tagtäglich zu tun hatte. Später dann, als die schlechten Zeiten kamen, blieb keine Zeit zum Nachdenken, weil wir Essen auftreiben mussten, um die hungrigen Mäuler einigermaßen zu stopfen, und ansonsten froh waren, wenn wir mal eine Mütze Schlaf kriegten. Erst als sich das Leben wieder beruhigte, kam mir der Gedanke, dass jedes kleine Bündel, das einem Baby mitgegeben wurde, mit der Liebe der Mutter gefüllt war. Die Mütter haben ihren Babys meist kleine Erinnerungsstücke mitgegeben. Aber soweit ich weiß, hat keines der Häuser, in denen ich gearbeitet habe, die Sachen behalten. Sie wurden weggeworfen wie alles andere auch. Ich habe deshalb schon oft an die Behörden geschrieben, aber sie reagieren nicht. Diese Andenken sind ja nicht wertvoll, aber sie sagen etwas über die Herkunft des Kindes aus. Von den Waisenhausverwaltungen kriegte ich immer bloß zu hören, sie hätten keinen Platz, so einen »Plunder« aufzubewahren. Manchmal wanderten die Sachen noch am selben Tag in den Ofen, als Brennmaterial.
    Es gab alle möglichen kleinen Andenken. Sogar Worte. Manche Mütter hatten lange, herzzerreißende Briefe auf die Kleidung des Babys geschrieben. Andere hatten Sachen bestickt oder kleine Kreuze oder Xe auf den Stoff genäht. Die Ärmsten von ihnen hinterließen einen blutigen Fingerabdruck. Bei manchen Babys war zunächst nichts in der Art zu finden. Aber wenn man dann genauer hinschaute, entdeckte man zum Beispiel auf einem winzigen Fingernagel ein Kreuz oder ein X. Vielleicht waren die Eltern zu mehr nicht in der Lage gewesen, weil sie zu unglücklich oder ihre Lebensumstände zu schwierig waren, aber war ihnen denn nicht klar, dass die Fingernägel des Babys wachsen und geschnitten werden würden? Wir haben nie Fotos gemacht, sind damals gar nicht auf die Idee gekommen, und überhaupt, welche Mitarbeiterin in einem Waisenhaus hätte sich denn zu der Zeit einen Fotoapparat leisten können?
    Die Kinder hatten nur selten irgendwelche Male auf der Haut. Aber viele Babys wiesen Spuren von Verbrennungen auf, meistens zwischen den Beinen. Ich habe einige Hebammen danach gefragt, und alle haben sie dasselbe geantwortet: Es waren Verbrennungen von Öllampen oder Kerzenwachs. Wenn Dorfhebammen ein Baby geholt hatten, schauten sie als Erstes nach, ob es ein Junge oder ein Mädchen war, weil die ganze Familie darauf wartete, das zu erfahren. Manche von den Verbrennungen waren an den Geschlechtsteilen der Babys, und weil der Bereich feucht ist, verheilten die Verletzungen der armen Kleinen schlecht.
    Es stimmt, kleine Babys können noch nicht verstehen, was mit ihnen geschieht, aber ihre Mütter leiden entsetzlich, weil sie sie lieben. Gebildete Frauen haben es da ein wenig leichter – zumindest wissen sie, dass ihre Babys ins Ausland adoptiert werden, meistens von wohlhabenden Familien, und dass sie als Töchter aufgenommen werden, nicht als Kinderbraut oder Zwangsarbeiterinnen. Die Ungebildeten tun mir leid, unendlich leid. Sie haben selbst so ein schweres Dasein, dann gebären sie unter Schmerzen eine Tochter, um sich anschließend auszumalen, was für grässliche Dinge die ausländischen Familien ihren kleinen Töchtern antun. Wissen Sie, manchmal flehen die Frauen mich an, den Ausländern etwas auszurichten: Zwingt die Kleine nicht zu früh zum Arbeiten, sonst wächst sie nicht richtig! Gebt nicht zu viel Wasser in die Milch oder in den Reisbrei, sonst hat sie Hunger! Manche sagen: Sie hat so volles schwarzes Haar, flechtet es doch für ein paar Tage, wenn sie möchte! Schneidet ihr nicht die Zöpfe ab, um Haarwaschmittel zu sparen! Manche möchten die neuen Eltern auch bitten, dass sie die Kleine »im linken Arm

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