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Wolkentöchter

Wolkentöchter

Titel: Wolkentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xinran
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war, hab ich von ihnen geträumt.«
    »Dann würde ich sagen, wir lassen sie uns in aller Ruhe schmecken. Und wenn wir fertig sind, entscheiden Sie, ob Sie mir Ihre Geschichte erzählen wollen oder nicht.« Und schon fischte ich mit den Essstäbchen ein Stück Entenmagen vom Servierteller und legte es in ihre Schale.
    Der Genuss, mit dem wir beide uns jedes Häppchen im Munde zergehen ließen, verriet, dass wir diese traditionellen Speisen schon sehr lange hatten entbehren müssen. Fast schien es, als fürchteten wir, es würde diese Leckereien nie wieder geben, sobald wir mit dem Essen fertig waren. Wir aßen alles ratzekahl auf, und als die Bedienung kam, um das Geschirr abzuräumen, sah ich, wie die Augen der alten Dame den Tellern folgten, bis sie durch eine Tür im hinteren Bereich des Restaurants verschwanden. Dann glitt ihr Blick zurück zum Tisch, auf dem noch immer zwei Tassen Chrysanthementee und eine Schale mit Melonenkernen standen. Es gehört sich nicht, dass der Gastgeber nach einer Mahlzeit den Tisch vollständig abräumt, und eine Tasse Tee und ein Schüsselchen mit Melonenkernen oder Erdnüssen symbolisieren Gastfreundschaft.
    Sie schaute auf ihre Uhr und sah sich dann in dem langsam leerer werdenden Restaurant um. Es war jetzt nach halb zwei. Die meisten Chinesen essen vor ein Uhr zu Mittag und vor sechs Uhr zu Abend. Selbst diejenigen, die im Ausland gelebt haben oder in China für ausländische Firmen arbeiten, die eine Fremdsprache sprechen und sich von Kopf bis Fuß ausländisch kleiden, haben noch immer einen chinesischen Magen, der sich durch kein Geld der Welt oder irgendwelche neuen Moden ändern lässt.
    Schließlich seufzte sie und sagte: »Nun denn, mir bleibt nicht mehr viel Zeit, und selbst wenn es gegen die Regeln verstößt, es ist meine letzte Chance, für diese kleinen Mädchen etwas Gutes zu tun.« Und so kam es, dass sie mir ihre Geschichte erzählte:
     
    Ich habe nie erfahren, wer ich bin. Meinen Namen haben mir die Missionarinnen im Waisenhaus gegeben. Es war ein ausländischer Name, Mary, aber während der Kulturrevolution, als ich in den Dreißigern war, haben die Roten Garden mich in Rote Mary umgetauft. Im Waisenhaus hieß ich aber weiter einfach nur Mary. Die Missionarinnen meinten, ich würde wohl aus einer reichen Familie stammen, weil die Sachen, die ich anhatte, als ich 1931 im Alter von knapp zwei Wochen am Fenster des Waisenhauses abgelegt wurde, aus Seide waren, bestickt mit kleinen Blümchen. Außerdem war ich in ein Brokattuch eingewickelt, das mit goldgestickten Küken auf silbernem Grund verziert war, und anscheinend war auch noch eine kleine handgearbeitete Tasche dabei, aber ich weiß nicht, was sich darin befand. Die Missionarinnen waren sich da nicht einig – ein Silberarmband, ein Silbermedaillon, ein paar Yuan-Shikai-Dollar. (Yuan Shikai, 1859  – 1916 , war ein chinesischer Militärführer und Politiker, der am Sturz des letzten Qing-Kaisers beteiligt war, zweiter Präsident der Republik China wurde und schließlich versuchte, die chinesische Monarchie mit sich selbst als Kaiser neu zu beleben.) Jedenfalls wurde die Tasche für mich aufbewahrt, und man sagte mir, ich würde sie bekommen, wenn ich getauft werde. Aber es ging alles verloren, als eine der Missionarinnen sich der Marionettenregierung von Wang Jingwei anschloss, die 1945 von Shanghai in den Süden nach Hongkong floh.
    Es herrschte allgemeine Panik. Wir hatten den besonderen Schutz und die Unterstützung der Marionettenregierung genossen, und nun sagten die Shanghaianer, wir Waisenkinder wären Verräter, weil wir uns an die Japaner verkauft hätten. Sie werden das vermutlich nicht wissen, aber nach 1945 wurden Verräter ausnahmslos hingerichtet, und ich denke, das Schicksal blieb uns nur deshalb erspart, weil sich Ausländer für uns einsetzten.
    Aber ich fange besser von vorne an: Ich bin in dem Waisenhaus aufgewachsen, und ich weiß noch, dass wir jeden Tag vor den Mahlzeiten und vor dem Zubettgehen unsere Gebete sprechen mussten. Ich lernte schon in sehr jungen Jahren lesen und schreiben, natürlich chinesisch, aber wir konnten auch alle ein paar Brocken Englisch. Zum Beispiel
Amen
und
God bless you,
weil wir das dauernd benutzten. Ich fing schon sehr früh an, mich mit um die kleineren Kinder zu kümmern. Als ich siebzehn war, wurde ich selbst eine richtige »Missionarin« im Waisenhaus, obwohl wir da schon keine richtigen Missionarinnen mehr waren. Die Kommunistische Partei glaubte

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