Wolkentöchter
selbst in den großstädtischen Waisenhäusern starben die meisten Babys schlicht an Verwahrlosung. Anständig ausgestattete Waisenhäuser gab es erst später. Jedenfalls noch nicht in den 1980 er Jahren, außer vielleicht in den Großstädten. Kleine und sogar mittelgroße Städte hatten keine richtigen Waisenhäuser. Die Einrichtungen nannten sich zwar so, aber in Wahrheit bestanden sie nur aus einem Raum mit einer Holzpritsche und ein paar Töpfen und Pfannen zum Kochen – nicht mehr als eine Notunterkunft, wo ein paar arme Würmchen versorgt wurden.
Später wurde ich nach Hubei und Shanxi geschickt, um dort Waisenhäuser aufzubauen, und ich stellte fest, dass es praktisch keinerlei Unterlagen gab. Schwer zu sagen, warum. Wir Chinesen dokumentieren nicht alles so gründlich, wie die Westler das tun – da gibt es Leute, die alles aufschreiben, sobald eine Organisation gegründet wird, sogar Sachen, die mit Gebäuden und Wartung zu tun haben. Aber in China wird alles verbrannt, weil die Leute Angst haben, dass sie beim nächsten Machtwechsel für irgendwelche Unzulänglichkeiten, die dann ans Licht kommen könnten, bestraft werden. Es ist wirklich ein Jammer.
Soweit ich weiß, entstanden in kleineren Städten auf dem Land erst Ende der 1980 er und Anfang der 1990 er Jahre die ersten richtigen Waisenhäuser, die mit denen in den Großstädten vergleichbar waren. Ein Grund dafür war, dass viele Bauern ihre Dörfer verließen, um sich Arbeit zu suchen. Wenn die Familien es nicht fertigbrachten, ungewollte Babys zu töten, brachten die Wanderarbeiter sie in die nächste Stadt, in der Hoffnung, dass die Kinder dort aufgenommen und versorgt würden. Außerdem gab es Paare, die sich nur einen Sohn wünschten, keine Tochter, und wegen der Ein-Kind-Politik kein weiteres Kind haben durften. Diese Leute wussten, wohin sie gehen mussten, um das Baby zu bekommen, und wo sie es dann abgeben konnten. Dann waren da die jungen Frauen oder Studentinnen in der Stadt, die vor der Hochzeit schwanger wurden, das hab ich selbst gesehen, und es waren sehr viele. Die gaben ihrem Baby oft irgendein Andenken mit, einen Brief oder ein Buch oder irgendein Erinnerungsstück aus jener Zeit. Die Bauern machten so was nicht. Es gab noch einen weiteren Grund, warum immer mehr Waisenhäuser entstanden, nämlich die Liberalisierung, die internationale Adoptionen ermöglichte. Die ausländischen Adoptivfamilien zahlten den Waisenhäusern Geld, mit dem diese wirtschaften konnten.
Ich weiß nicht mal, wie teuer es für Ausländer war, ein Baby zu adoptieren. Schon seltsam, dass wir, die wir in Waisenhäusern gearbeitet haben, das nie erfahren haben. Eine chinesische Familie musste für einen Jungen bis zu zehntausend Yuan zahlen, das weiß ich allerdings. (Sie war entsetzt, als ich ihr erzählte, dass Ausländer 2007 für die Adoption eines kleinen Mädchens drei- bis fünftausend US -Dollar bzw. zwischen fünfundzwanzig- und fünfundvierzigtausend Yuan zahlten. Eine chinesische Familie wiederum musste zehntausend Yuan zahlen, um einen Jungen zu adoptieren, aber nur zwei- bis dreihundert Yuan für ein Mädchen.) Das Geld ist bestimmt in die Taschen hoher Beamter geflossen – in den Waisenhäusern ist jedenfalls nie so viel angekommen. Aber die heutigen Waisenhäuser sind viel besser als früher. Zwischen damals und heute besteht ein himmelweiter Unterschied, was Essen, Kleidung und Ausstattung betrifft. Ich habe schon Waisenhäuser gesehen, die die reinsten Unternehmen geworden sind. Aber immer noch besser, als Babys nebeneinander auf den Boden zu legen, wo sie von Ungeziefer totgebissen werden.
Sie können sich nicht vorstellen, wie untauglich die für die Waisenhäuser zuständigen Kader waren, überall. Entweder konnten sie die Kinder nur praktisch betreuen, aber nicht unterrichten, weil sie selbst Analphabeten waren, oder sie verwandelten die Waisenhäuser in geschäftliche Unternehmen oder nutzten sie als Sprungbrett für ihre Karriere. Als die ersten Ausländer kamen, um unsere Babys zu adoptieren, haben die Kader sie wie reiche Prominente behandelt. Wir mussten die Babys, die zur Adoption standen, hübsch anziehen, vorzugsweise in Sachen mit ausländischer Schrift drauf, um den Schein zu wahren. Aber diese Kader hatten nicht verstanden, dass Ausländer gerade deshalb auf uns herabsahen, weil wir uns mittlerweile auf Fastfood und westliche Imbissketten wie McDonald’s stürzten. Sie waren unfähig. Sie kannten noch nicht mal den
Weitere Kostenlose Bücher