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Wolkentöchter

Wolkentöchter

Titel: Wolkentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xinran
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worden.
    »Meine Familie stammt ursprünglich aus Shanghai, aber ich bin in Beijing und an anderen Orten aufgewachsen. Und Sie?«, fragte ich, weil mein Reporterinstinkt sich meldete.
    »Ich bin auch gebürtig aus Shanghai, aber ich bin von hier weg, als ich noch recht jung war, und seitdem nicht mehr hier gewesen. Erst letzte Woche hat sich mir die Gelegenheit geboten, und ich muss sagen, es ist unglaublich, ich kann es wirklich nicht fassen.« Sie zeigte aus dem Fenster auf die Restaurants mit ihren westlichen Neonreklamen.
    »Und wie lange waren Sie fort?« Ich stellte die Frage zögernd.
    »Fast sechzig Jahre …« Sie hob mit ihren Essstäbchen eine Nudel aus der Schale und betrachtete sie nachdenklich.
    »Sechzig Jahre!«, entfuhr es mir etwas lauter als beabsichtigt, was von den übrigen Gästen mit missbilligenden Blicken quittiert wurde.
    »Ja, ich hab Shanghai 1948 verlassen«, sagte sie und schob sich überaus bedächtig den Nudelfaden in den Mund.
    Bald darauf wurden meine Nudeln serviert, und auch ich nahm eine einzelne Nudel, um sie mir langsam, Stück für Stück mit den Essstäbchen in den Mund zu schieben. Sie lächelte. »Wie ich sehe, bin ich nicht die Einzige, die Nudeln so isst.«
    »Mh-hm. Sie kennen doch das chinesische Sprichwort, in dem es heißt, wer große Bissen nimmt, ist schnell satt, aber wer kleine Happen isst, genießt den Geschmack. Wie ich sehe, sind Sie eine größere Feinschmeckerin als ich, also folge ich Ihrem Beispiel.«
    »Na, da bin ich mir nicht so sicher. Ich hab viele Jahre in einem Waisenhaus gelebt. Große Bissen waren bei dem wenigen Essen, das wir damals hatten, gar nicht möglich, und erst viel später konnte man kleine Happen essen und satt werden.«
    Ich hoffte, sie würde nicht bemerken, wie meine Augen bei ihrer Antwort aufleuchteten, denn ich begriff, dass sie mir vieles würde erzählen können. Aber sie hatte es bemerkt und wunderte sich über mein Interesse. Als Erstes fragte ich nur, was sie in dem Waisenhaus gemacht habe.
    »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das erzählen soll. Über so etwas redet man nicht, und es ist jetzt alles vergangen und vergessen.« Dann wandte sie den Kopf und schaute aus dem Fenster auf die schicken Männer und Frauen, die draußen vorbeihasteten.
    »Würden Sie wohl einen Moment warten? Ich bin gleich wieder da.« Ich ging zu der Bedienung und bestellte eine Auswahl an typischen Shanghaier Beilagen: kaltes Hähnchen in Reiswein, Entenmägen in Wein, gedünsteten Tofu und verschiedene Gemüse – Bohnensprossen, Sojabohnen in Sojasoße, all die Sachen, die meine Großmutter früher für uns zu Hause zubereitet hatte.
    Sobald ich wieder am Tisch saß, erzählte ich der alten Dame alles: Ich arbeitete an einem Buch. Ich hatte außerdem eine Stiftung mit dem Namen Mothers’ Bridge of Love gegründet. Es war mir nie gelungen, irgendwas über das frühere Leben in chinesischen Waisenhäusern herauszufinden … Und schließlich flehte ich sie an, mir die Geschichte ihres Lebens in einem Waisenhaus zu erzählen.
    Sie blickte verlegen. »Ich glaube, das ist keine gute Idee. Es könnte Menschen aufwühlen.« Ich wusste, welche »Menschen« sie meinte.
    »Aber Sie sind jetzt Rentnerin, nicht wahr? Sie sind wieder in Shanghai. Meinen Sie nicht, Sie sollten Kindern erzählen, was in der Vergangenheit geschehen ist? Sonst gerät all die gute Arbeit, die Sie und Ihre Kolleginnen geleistet haben, doch schlicht in Vergessenheit.«
    Doch sie zögerte noch immer. Dann zählte ich beispielhaft einige Fragen auf, die mir in den Briefen von jungen, ins Ausland adoptierten Chinesinnen immer wieder gestellt wurden, darunter diejenige, die am häufigsten vorkam: »Warum hat meine chinesische Mutter mich nicht gewollt?«
    Ihre Augen wurden feucht. »Wenn sie nur wüssten … ihre armen, armen Mütter!«
    »Sie wissen es nicht, weil es ihnen nie jemand gesagt hat. Genau darum geht es mir: Ich will ihnen vermitteln, was in ihren Müttern vorgegangen ist.«
    »Ich weiß nicht, was in ihren Müttern vorgegangen ist, aber eines weiß ich auf jeden Fall: Sie haben gelitten.«
    Die von mir zusätzlich bestellten Speisen wurden gebracht und füllten unseren kleinen Tisch. Irgendwie schienen die vertrauten Gerichte sie in ihre Kindheit zurückzuversetzen. Sie ließ den Blick über das viele Essen schweifen, sah dann mich an, dann wieder das Essen und dann wieder mich: »Das sind alles Sachen, die ich für mein Leben gern esse. Die ganze Zeit, während ich fort

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