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Wolkentöchter

Wolkentöchter

Titel: Wolkentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xinran
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schenken. Der Adel und die kaiserlichen Familien taten es häufig, um ihren Reichtum und ihre Macht zu schützen. In keiner gesellschaftlichen Schicht waren Menschen bereit zuzugeben, dass die Flamme am Schrein der Ahnen, die nur der älteste Sohn am Leben erhalten konnte, erlöschen würde. Das galt auch für die höchste Spitze der Gesellschaft: Jeder Kaiser musste ein »wahrer« Kaiser sein, der seine Macht und seine Privilegien rechtmäßig geerbt hatte.
    Scheidung, wie wir sie heute in China verstehen, ist ein Produkt der modernen chinesischen Gesellschaft. Bis zur Zerschlagung des kaiserlichen Feudalsystems im Jahr 1911 konnte ein Mann seine Frau verstoßen, aber eine Frau hatte absolut keine Möglichkeit, ihre Ehe zu beenden. Im Zuge der heftigen Umwälzungen und politischen Umbrüche des zwanzigsten Jahrhunderts wurde Scheidung (und Wiederverheiratung) mehr und mehr zu einer Möglichkeit, Karriere in der Politik zu machen und ein besseres Leben zu führen. Niemand hätte Außenstehenden gegenüber offen zugegeben, dass er sich hatte scheiden lassen, um einer zutiefst lieblosen Ehe zu entrinnen. Erst in den 1980 er Jahren wurde es den Chinesen möglich, frei und selbstbestimmt in Sachen Ehe zu entscheiden und sich eine Familie zu suchen, wie sie sie sich wirklich wünschten. Von da an wurde Scheidung endlich zu einem Thema, über das man offen reden konnte.
    Adoption bedeutete im alten China, das Kind eines Verwandten bei sich aufzunehmen. Hauptsächlich waren Jungen davon betroffen. Sie wurden Mitglied der Adoptivfamilie und hatten dann auch Anspruch auf einen Anteil am Familienvermögen. Mädchen wurden kaum auf diese Weise adoptiert. Für gewöhnlich kamen sie als Kinderbräute in eine neue Familie, wurden dort aufgezogen, bis sie alt genug waren, um mit dem Sohn der Familie verheiratet zu werden. Bevor dieses System 1950 abgeschafft wurde, erduldeten fast alle Kinderbräute ein grausames Schicksal: Sie genossen nicht dieselbe Stellung wie die anderen Töchter, hatten nicht die normalen Rechte, die mit der Heirat in eine neue Familie einhergingen, und wurden von klein auf als billige Arbeitskräfte ausgebeutet. Die traditionellen Bindungen zwischen Blutsverwandten blieben ungeheuer stark, da sie mit dem Erbe des Vermögens ebenso verbunden waren wie mit der Pflicht der Kinder, für ihre alten Eltern zu sorgen. Die Menschen fürchteten, die angenommenen Kinder, die sie unter großen Opfern großgezogen hatten, würden ihre Adoptivfamilien verlassen, sobald sie alt genug waren, um in ihre Heimatdörfer zurückzukehren und dort für ihre leiblichen Eltern zu sorgen, die doch nichts dazu beigetragen hatten, sie großzuziehen. Daher wurde angenommenen Kindern fast nie erzählt, woher sie stammten.
    Diese Einstellung änderte sich ab 2005 allmählich, als der Staat chinesische Familien darin bestärkte, verlassene Kinder zu adoptieren. In der Praxis waren aber nur sehr wenige dazu in der Lage, da tiefverwurzelte gesellschaftliche Haltungen und die Ein-Kind-Politik dagegensprachen. Außerdem fragen sich viele, wie die übrige Gesellschaft darauf reagieren wird. Werden Adoptivfamilien oder diejenigen, die ihre Kinder abgeben, in der Lage sein, Vorurteile zu überwinden und einen neuen Familienbegriff zu entwickeln? Das sind Fragen, auf die Antworten gefunden werden müssen, und ch denke, das wird seine Zeit dauern.
    Als ich die Stiftung The Mothers’ Bridge of Love gründete, geschah das mit dem Ziel, Adoptivfamilien dabei zu helfen, mehr über das Leben der leiblichen Mütter, über chinesische Geschichte und Kultur zu erfahren, um eine Brücke zwischen der aufnehmenden Gesellschaft und der Herkunftskultur der Kinder zu bauen. Wie sich herausstellte, war die schwierigste Aufgabe dabei, mehr über die Mütter herauszubekommen, die gezwungen gewesen waren, ihre Babys abzugeben. Im Zuge meiner Arbeit als Journalistin in China war ich einigen solcher Mütter begegnet, aber um mehr zu erfahren, benötigte ich die richtigen Kontakte auf allen Regierungsebenen. Die Kombination von Traditionsbewusstsein und schwerfälligem Verwaltungsapparat machten das damals unmöglich, so dass ich noch immer mit dieser Aufgabe befasst bin.
    Ich wusste, wenn ich die Geschichten dieser Mütter erzählen wollte, musste ich jede Gelegenheit nutzen, und setzte daher Himmel und Hölle in Bewegung, um die beiden Frauen zu treffen, von denen die Rote Mary gesprochen hatte: Na und die Grüne Mary. Von ihnen erhoffte ich mir, mehr über die

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