Wolkentöchter
Gründe zu erfahren, wie und warum Kinder ausgesetzt wurden. Aber es gelang mir nicht, mit Na in China Kontakt aufzunehmen. So traf ich sie erst im Oktober 2007 , als ich gerade für mein Buch über
The Mothers’ Bridge of Love
in den USA auf Lesereise war. Eine Freundin von ihr hatte an einem Treffen von Adoptivfamilien teilgenommen, das ich in Boston organisiert hatte. Am nächsten Tag bekam ich viele E-Mails von neuen Freunden, aber nur eine davon war auf Chinesisch. Die Absenderin stellte sich als Marys Kontaktperson vor: Na. Sie war inzwischen amerikanische Staatsbürgerin, und sie schrieb, sie hoffe, sich mit mir in New York treffen zu können, falls ich die Zeit dafür fände.
Ich hatte ohnehin vorgehabt, ein paar Tage in New York zu verbringen, um meine Weihnachtseinkäufe zu machen, daher ergriff ich die Gelegenheit beim Schopf. Wir verabredeten uns in einem Coffeeshop am Broadway. Als ich dort ankam, war der Laden zu meiner Verblüffung rappelvoll, und das vor zehn Uhr morgens an einem ganz normalen Wochentag. Ich wartete in der Hoffnung, dass ein Tisch am Fenster frei würde, und tatsächlich konnte ich einen ergattern. Ich war noch immer zehn Minuten zu früh dran, aber Na schien sich an gute alte chinesische Sitten zu halten und kam ebenfalls zu früh. Ich bemerkte sie, sobald sie zur Tür hereinkam, wahrscheinlich, weil es ungewöhnlich ist, wenn eine Chinesin allein einen Coffeeshop betritt. Und sie wiederum ließ den Blick nur einmal durchs Lokal schweifen und kam dann schnurstracks auf mich zu.
Na sah nicht älter als dreißig aus. Sie war weder im saloppen europäischen Stil gekleidet, noch trug sie Designerklamotten und teuren Schmuck, wie eine chinesische Staatsbürgerin das getan hätte. Ihre Kleidung entsprach vielmehr dem Edelschick der typischen New Yorkerin. Unter einem blassrosa-blau karierten Rundhalsblazer mit großen Knöpfen trug sie ein cremefarbenes Kaschmirtop mit Stehkragen. Ihr Schmuck bestand aus einer schimmernden Halskette aus geflochtenem Gold und dazu passenden Ohrringen. Ihre Hose war ebenfalls cremefarben, hatte Aufschläge und goldene Zierknöpfe, die zu ihrem Goldschmuck passten.
Na zog ihren Mantel aus und setzte sich, die vollendete cremefarbene Eleganz. Zum Auftakt unseres Gesprächs stellte sie mir Fragen zu den Aktionen von The Mothers’ Bridge of Love. Dann sprachen wir über die Schwierigkeiten, mit denen Stiftungen zu kämpfen haben, die von Auslandschinesen geleitet werden, und über ihre mangelnde Anerkennung und Unterstützung im Westen. Nachdem wir eine Weile erörtert hatten, wie man westlichen Familien helfen kann, die chinesische Kultur zu verstehen, kamen wir schließlich auf die Briefe zu sprechen, in denen Adoptivfamilien uns um Hilfe baten. Mehrmals traten Na Tränen in die Augen, und sie wirkte aufgewühlt. Schließlich wurde sie von ihren Emotionen überwältigt und sagte mit bebender Stimme:
»Ich weiß, meine Tochter ist auch dabei.«
Ich war verwirrt. »Ihre Tochter?«
»Ja, meine Tochter. Sie war nur zweiunddreißig Tage bei mir. Dann hab ich mein eigenes Kind weggegeben.« Und sie brach in Tränen aus.
Mir stockte vor Entsetzen der Atem. Wie war es möglich, dass diese modebewusste junge Frau, der es in den USA offensichtlich gut ergangen war, ihre eigene Tochter weggegeben hatte? Aber ich beherrschte mich. Das war nicht der passende Zeitpunkt, um Na mit Fragen zu bombardieren. Ich hoffte, ein Moment der Stille, während wir unseren Kaffee tranken, würde uns beide ein wenig beruhigen. Ein Kellner kam an unseren Tisch und fragte, ob alles in Ordnung sei.
Ich sah zu, wie Na sich mit chinesischen Heart-to-Heart-Papiertaschentüchern die Tränen vom tadellos geschminkten Gesicht tupfte. Dann umfasste sie ihre Kaffeetasse mit beiden Händen, als wollte sie das Zittern damit unterdrücken, und blickte aus dem Fenster auf den Broadway, der sich Richtung Central Park erstreckte.
» 2002 , in meinem letzten Jahr an der Shanghai University, hatte ich eine Affäre mit einem Professor. Damals war ich eine lebensprühende, unwiderstehliche junge Frau, zumindest hielt ich mich dafür. Meine Eltern waren beide Dozenten an einer anderen Uni. Sie hatten mich sehr streng erzogen und mir niemals erlaubt, allein auszugehen. Erst im vierten Studienjahr, als ich schon zweiundzwanzig war, durfte ich ins Studentenwohnheim ziehen. Ende der 1990 er Jahre hatte Shanghai sich durch die wirtschaftlichen Reformen stark verändert. Es war ›verwestlicht‹, und
Weitere Kostenlose Bücher