Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wolkentöchter

Wolkentöchter

Titel: Wolkentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xinran
Vom Netzwerk:
junge Frauen hatten auf einmal jede Menge Freiheiten. Viele Studentinnen schliefen schon im ersten Semester mit ihren Freunden, und zwischen den Männern herrschte eine große Rivalität. Wir waren zu acht in einem Zimmer, und ich war das hässliche Entlein. Alle lachten mich aus, weil ich eine so altmodische Jungfrau war, eine junge Frau, die sich einen Freund wünschte, aber keinen hatte. Mitunter machte mich das völlig fertig, und dann hatte ich das Gefühl, noch weniger wert zu sein als eine Prostituierte. Die anderen wussten wenigstens, was es bedeutete, eine Frau zu sein, und was Männer sich wünschten. Zum Glück zog ich im Spätsommer ins Wohnheim, als alle Betten noch Moskitonetze hatten, so hatte ich immerhin etwas, wohinter ich meine depressive Stimmung verbergen konnte. (›Studentenblues‹ nannten wir das damals.)
    Jedenfalls, wenn es abends dunkel wurde, waren diese Netze auch für die anderen wie Schutzschilde, und sie redeten dann ungeniert über ihr Liebesleben. Über alles, hemmungslos; wie ihre Freunde aussahen und über deren Penisse, wie es war, mit jemandem zu schlafen, einen Orgasmus zu haben.
    Ehrlich gesagt, wenn ich jetzt daran zurückdenke, kann ich es selbst kaum glauben. Noch eine Generation vor uns hatten die Studenten, selbst wenn sie Eltern geworden waren, im Beisein ihrer Kinder noch nicht mal Händchen gehalten, von Umarmungen und Küssen ganz zu schweigen. Wieso schlugen wir dann so schnell ins andere Extrem um? Anders als meine Kommilitoninnen war ich es nicht gewohnt, allein auszugehen. Ich hatte zurückgezogen zu Hause gelebt, und auf einmal bekam ich diese heißen Gespräche über Sex mit. Ich wusste wirklich nicht, was ich davon halten sollte.
    Manchmal merkte ich, wie mein Atem schneller ging und dass es da unten pulsierte.«
    Sie stockte und sah mich durchdringend an.
    »Vermutlich sind Sie schockiert, wie offen ich rede. Wir Chinesen sind Heuchler, wissen Sie? So sind wir erzogen worden. Wir betrachten selbst biologische Instinkte schwarzweiß, unterteilen sie in gute und böse. Tatsache ist, wir alle verdrängen eine ganze Menge Erinnerungen, während wir heranwachsen. Wir möchten uns ja anderen Menschen gegenüber öffnen, aber wir gestehen uns vieles selbst nicht ein. Aber dann werden diese Erinnerungen zu Geißeln, die uns im Traum züchtigen. Entschuldigen Sie, ich klinge wirklich ziemlich verrucht.«
    An dieser Stelle holte ich meinen Kassettenrekorder hervor und fragte, ob ich unser Gespräch aufzeichnen dürfe.
    »Nur wenn Sie es so machen wie in
Verborgene Stimmen
und solange sie meinen richtigen Namen nicht nennen. Ich bin Ingenieurin, meine Generation hat Computer noch verteufelt. Ich kann diese Geschichte nicht selbst schreiben, und sie bedrückt mich schon seit Jahren. Wenn Sie sie verwenden wollen, bitte sehr!« Dabei streckte sie mir die geöffneten Hände entgegen, als gäbe sie mir nicht bloß ihre Erlaubnis, sondern böte mir zugleich auch ihr Herz an. Dann erzählte sie weiter.
    »Durch die Gespräche meiner Zimmergenossinnen gerieten die moralischen Bollwerke, die meine Eltern zwanzig Jahre lang um mich errichtet hatten, allmählich ins Bröckeln. Schauen Sie mich nicht so an! Das ist die Wahrheit«, beteuerte sie. »Meine ersten Reaktionen waren rein körperlich; emotional war ich nicht sonderlich interessiert. Und ich hatte keine Eile. Aber eines Abends im Spätherbst wurde das anders, als das Gespräch auf den jüngsten Professor an unserer Fakultät kam.
    Ich hatte keine Lust auf irgendwelche abgehobenen akademischen Diskussionen mit ihm, und anders als meine Kommilitoninnen beneidete ich ihn auch nicht um seine Bilderbuchfamilie – eine hübsche Frau, die als Kassiererin in einem Hotel arbeitete, das Ausländern gehörte, nebst Sohn und Tochter, Zwillingen. Darum ging es nicht. Was mich jedoch wirklich interessierte, war, dass er nie ein Auge auf andere Frauen warf. Er schien gegen jede Versuchung gefeit zu sein. Ich staunte über seine Treue und fand es faszinierend, wie die Liebe Menschen verändern kann. Zwei Monate lang folgte ich ihm praktisch überallhin und beobachtete, was er machte. Sein Verhalten war wirklich untadelig. Wenn er nicht an der Uni war, im Schwimmbad oder im Büro, dann war er zu Hause.
    Er wohnte auf dem Campus. Sie hatten eine Eckwohnung im zweiten Stock, und abends war es ganz einfach, sie aus verschiedenen Blickwinkeln zu beobachten. Vor dem Gebäude lag ein Sportplatz, keine anderen Häuser, daher zogen sie fast nie

Weitere Kostenlose Bücher