Wolkentöchter
Waisenhäusern in armen Regionen als Mittel, um unsere Regierung zu kritisieren. Die Behörden greifen hart gegen Waisenhäuser durch, die in den Fokus der Medien geraten. Auf jeden Fall wird ihnen die Finanzierung gestrichen, und in manchen Fällen wird das gesamte Personal entlassen und ersetzt, und sie dürfen keine Kinder mehr zur Adoption ins Ausland schicken. Auch wir werden da mit reingezogen und bekommen Ärger mit der Politik. Den Ausländern geht es immer bloß um die ›zeitgeschichtliche Dokumentation‹. Die Gefühle des chinesischen Volkes spielen für sie keine Rolle. Wenn ich als adoptiertes Mädchen im Ausland leben würde, wäre es mir nicht recht, wenn die Leute erfahren würden, dass ich aus irgendeinem verwahrlosten und gottverlassenen Bergdorf komme. Das wäre zu beschämend.«
Wan war empört. Ich wunderte mich, dass eine hohe Beamtin des CCAA eine so bornierte und argwöhnische Haltung gegenüber fremden Kulturen und Sitten hatte. Und ich wunderte mich auch, wie tief die lebenswichtige Bedeutung des »Gesichtwahrens« der traditionellen chinesischen Kultur auch bei den jungen Leuten von heute noch verwurzelt war.
»Vielleicht finden die Ausländer es wichtig, dass ihre Adoptivtochter erfährt, welche Herkunft sie hat, weil die ja schließlich zu ihrer Lebensgeschichte gehört«, gab ich zu bedenken.
»Aber es ist ein Aspekt von deren Kultur. Wie viele Chinesen interessieren sich denn schon für ihre Herkunft?« Sie versuchte, ihren Standpunkt zu rechtfertigen. »So schnell, wie sich das Land verändert, können sie den Wandel ohnehin nicht richtig dokumentieren.«
Wenn schon eine junge Universitätsabsolventin so über Dokumentationen der Zeitgeschichte Chinas dachte, wie groß war dann die Chance, das die kleinstädtischen Kader, die keine höhere Schulbildung hatten, die jahrtausendealte Geschichte und das Brauchtum ihrer Region zu schätzen wussten? »Gerade weil sich alles so schnell verändert«, sagte ich, »wollen die ausländischen Eltern ihren Kindern, die in einem fremden Land aufwachsen, irgendetwas geben, das sie daran erinnert, woher sie kommen.«
»Klar, das wissen wir auch. Aber wie viele Chinesen möchten denn schon ihre verarmte Heimat zur Schau gestellt sehen? Sie selbst haben vorhin gesagt, Sie stammen aus Shanghai und sind in Beijing aufgewachsen. Das sind beides Großstädte, und wenn sie anderen das erzählen, hört sich das richtig toll an. Aber ich komme aus einer Kleinstadt in der Provinz Shanxi, und ich bin das allererste Mal in eine Großstadt gekommen, als ich anfing zu studieren. Für Leute wie mich aus Shanxi sind Bergbaustädte wie Datong und Taiyuan schon die reinste Hauptstadt. Wir hatten Hochachtung vor den dortigen Leuten. Aber wenn ich in Beijing von Datong und Taiyuan redete, klang das richtig lächerlich. Die Leute haben mich angesehen, als wäre ich ein verdreckter Bergmann aus Datong, und meistens kriegte ich irgendeine herablassende Bemerkung zu hören. Die kleinen Mädchen werden wie Prinzessinnen aufwachsen. Glauben Sie im Ernst, sie wollen daran erinnert werden, dass sie als Aschenputtel angefangen haben?«
In einem Punkt hatte sie völlig recht: Noch heute sind in China Herkunftsort und Dialekt auf jeder gesellschaftlichen Ebene als Statuszeichen so wichtig wie eh und je.
»Ich denke«, sagte ich, »die westlichen Adoptivfamilien werden den Kindern helfen, die Armut ihrer Herkunft zu verkraften. Schließlich wurden sie von chinesischen Müttern geboren.«
Doch sie konnte meine Argumentation nicht nachvollziehen: »Ich glaube, Sie haben zu viele Bücher gelesen. Da steht so einiges drin, aber die Wirklichkeit sieht völlig anders aus. Mutterliebe ist doch angeblich etwas Wunderbares, aber so viele Babys werden einfach weggegeben, und zwar von ihren Müttern. Diese Frauen sind unwissend und haben eine andere Haltung zu ihren Emotionen als Sie. Wo ich herkomme, reden die Leute darüber, ein neugeborenes Mädchen zu ersticken oder es einfach in den Bach am Dorfrand zu werfen, wo es von Hunden gefressen wird, als wäre das ein Scherz. Was meinen Sie wohl, wie sehr diese Frauen ihre Babys lieben?«
Ihre Schonungslosigkeit schockierte mich. »Die Gesellschaft, in der sie leben, macht so etwas möglich«, sagte ich. »Wir alle plaudern und lachen mit den Menschen um uns herum, bei der Arbeit, tagsüber. Wir tun das, damit wir dazugehören, weil es das Leben einfacher macht. Aber nachts oder wenn wir allein sind, dann durchleben wir die Gefühle,
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