Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wolkentöchter

Wolkentöchter

Titel: Wolkentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xinran
Vom Netzwerk:
von denen niemand etwas weiß, und wir müssen sie allein ertragen.«
    Sie betrachtete mich einen kurzen Moment. Sie sah mir wohl an, dass ich erschüttert war, und war immerhin so gutherzig, mich nicht verletzen zu wollen, daher antwortete sie: »Sie haben recht, aber trotzdem sind diese Frauen nicht so gebildet wie Sie, und sie empfinden nicht so viel oder so tief.«
    Der erste Teil ihres Satzes machte mir Mut, dennoch konnte ich mich einfach nicht bremsen. »Aber Menschen sind die emotionalsten Wesen, die es gibt. Wir können schon Schmerz oder Angst empfinden, wenn wir nur etwas relativ Unwichtiges verlieren, das uns aber etwas bedeutet – einen Stift, ein Buch, eine Tasche. Ein kleines Kind bricht bereits in Tränen aus, wenn ihm seine Eiswaffel auf den Boden fällt. Wie viel mehr muss dann wohl eine Mutter empfinden, die ihr Baby neun Monate im Bauch getragen und sich gefragt hat, wie es wohl sein wird. Sie kann nicht anders, als sich das zu fragen, und sie kann auch nicht anders, als Schmerz zu empfinden. Selbst in bitterarmen Gegenden kümmert sich so manche Frau um ein Kätzchen oder einen jungen Hund. Da wird sie ganz sicher echte Trauer empfinden, wenn ihr neugeborenes kleines Mädchen getötet oder ihr weggenommen wird.«
    »Sie sind anscheinend ein Mensch, der sich wirklich in andere einfühlen kann«, sagte Wan. Und ich sah ihr an, dass sie das nicht einfach so dahinsagte. Sie meinte es ernst. Aber sie schüttelte den Kopf, während sie sprach. Ihr Zynismus machte mich fassungslos. Als ich später die Geschichte der Grünen Mary hörte, musste ich an einiges denken, was Wan gesagt hatte.
    Mein Blick wurde von dem Meer aus Wolken vor dem Flugzeugfenster angezogen. Sie nahmen immerzu irgendwelche Formen an, um sich dann wieder gänzlich aufzulösen. In vielen verschiedenen Kulturen lehrte man Kinder, Wolken als Wesen zu betrachten, die um Sonne und Mond herumtollten, Freud und Leid der Menschen teilten und die Träume und Hoffnungen vieler, vieler Frauen mit sich trugen. War die Chinesin, die da neben mir saß, überhaupt in der Lage, dieses Geschenk der Natur zu spüren? Ich blickte weiter auf die Wolken und sagte: »Ich weiß nicht. Ich glaube einfach nur, Mutterliebe ist jedem Lebewesen angeboren. Vielleicht drückt sich diese Liebe auf eine Weise aus, die wir nicht verstehen können, aber sie hat ihre ganz eigenen Ausdrucksformen, davon bin ich felsenfest überzeugt. Ungebildete Mütter in armen chinesischen Dörfern lieben ihre Kinder auf eine Art, die wir Städter nie erlebt haben und vielleicht nicht mal erkennen. Es ist ein bedauerlicher Nachteil der ›modernen‹ Erziehung und Bildung, dass sie uns nur lehrt, das Leben durch die Erfahrungen derer zu ›empfinden‹, die uns vorausgegangen sind. Wir haben keine Möglichkeit, unmittelbar mit anderen Kulturen zu kommunizieren, so wie Tiere ihre Umgebung und andere Menschen unmittelbar erleben …«
    »Haben Sie für Ihre Überzeugungen irgendeinen Beleg?«, fragte sie und blickte an mir vorbei aus dem Flugzeugfenster.
    »Ich verbringe viel Zeit auf dem Land«, sagte ich und sah sie an. »Ich habe die Herzenswärme und Großzügigkeit der alten Dorffrauen persönlich erfahren.«
    »Ich gebe Ihnen insofern recht, als die Landbevölkerung sehr viel warmherziger ist als die Menschen in den Städten. Städter sind zu sehr damit beschäftigt, um gesellschaftliches Ansehen, Macht und Einfluss zu kämpfen«, sagte sie ernst.
    »Es müsste sich doch vieles zum Guten gewendet haben. Ich komme häufig nach China, aber ich bleibe nie lange, deshalb ist es mir fast unmöglich, richtig mitzukriegen, was so alles passiert.« Das machte mir sehr zu schaffen: China wandelt sich so schnell, dass ich mir ein bisschen so vorkomme wie ein wildes Tier, das in Gefangenschaft aufgezogen und dann in die Freiheit entlassen wird – nie werde ich so ganz zu meinen Mitgeschöpfen passen, die in der Wildnis geboren und aufgewachsen sind.
     
    Die Grüne Mary war die zweite im Adoptionssystem arbeitende Frau, die ich kennenlernte. Sie sagte, sie habe sich aus Dankbarkeit gegenüber der Roten Mary selbst so genannt. Die Frauen hatten zwei Jahre zusammengearbeitet, und die Grüne Mary hatte eine Art Handbuch verfasst, in dem solche Dinge erläutert wurden wie die Anstandsregeln von Westlern, die Prinzipien, nach denen die Missionare Waisenhäuser geleitet hatten, oder die Methoden, mit denen Kinder in Waisenhäusern erzogen werden sollten. Da die Rote Mary langsam in die

Weitere Kostenlose Bücher