Wolkentöchter
vor Überanstrengung kaum noch was essen, und auch ich war jeden Tag fix und fertig. Es ging nicht mehr. Wir waren beruflich sehr eingespannt, kamen immer erst spät nach Hause und mussten oft auch noch am Wochenende ins Büro. Ich war gerade befördert worden und verantwortlich für den Ausbau von Waisenhäusern und des Auslandsadoptionssystems, deshalb war ich oft auf Dienstreise.
Mein armes kleines Mädchen, ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen. Ich hatte einfach das Gefühl, sie im Stich zu lassen. Eines Tages dann besichtigte ich ein Waisenhaus in Sichuan, und jemand erzählte, dass eine Mitarbeiterin dort ihre eigene Tochter als Waisenkind ausgegeben und zur Adoption freigegeben habe. Damals dachte ich, wie konnte sie nur? Wie konnte jemand sein eigen Fleisch und Blut weggeben? Ich ließ die Frau zu mir kommen. Sie war noch sehr jung und für das Kochen im Waisenhaus zuständig. Sie weinte, als sie mir erzählte, wie schwer es Mädchen in den Bergen von Sichuan hatten. Mit nicht mal fünf Jahren wurden sie zur Arbeit auf die Felder oder hinauf in die Berge geschickt, um Feuerholz zu sammeln, das sie dann auf dem Rücken ins Tal tragen mussten. Sie hatte selbst ein schweres Leben gehabt. Sie hatte ihrem Mann einen Sohn geschenkt, aber ihre Schwiegereltern verlangten ein weiteres Enkelkind. Sie sagten, sie würden ihr eine Geburtserlaubnis für Bevölkerungsminderheiten kaufen. (Bevölkerungsminderheiten, also Nicht-Han-Chinesen, dürfen in China mehr als ein Kind bekommen.)
Als sie mit dem zweiten Kind schwanger war, ließen die Schwiegereltern ihre Beziehungen spielen und besorgten ihr eine Anstellung als Köchin in dem Waisenhaus der Stadt, in der ihr Mann als Hilfsarbeiter lebte. Dort sah sie die Ausländer, die kamen, um ihre neuen Babys abzuholen, und sie begriff, dass auch kleine Mädchen ein gutes Leben haben konnten, besonders, als sie Videos sah, die die Ausländer von ihren Kindern in der neuen Heimat drehten und ans Waisenhaus schickten. Als sie erfuhr, dass sie ein Mädchen bekommen würde, bestach sie Waisenhausmitarbeiter, ihr Neugeborenes zu nehmen und auf die Adoptionsliste zu setzen. Die Kleine wurde von einem französischen Ehepaar adoptiert, das später ein Video ans Waisenhaus schickte. Sie sah ihre Tochter, die lebte wie eine Prinzessin, und sie freute sich für sie, obwohl sie sich jeden Tag nach ihr sehnte. War es nicht besser zu wissen, dass ihre Tochter ein gutes Leben hat, anstatt zu erleiden, dass sie ein schweres Leben führen muss?«
»Und da sind Sie dann auf die Idee gekommen«, mutmaßte ich.
»Es war, als wäre mir ein Licht aufgegangen. Ich ließ die Köchin ungestraft davonkommen, nahm aber ihr Video mit nach Beijing. Ich schaute es mir mehrfach zusammen mit meinem Mann an und war richtig gerührt von diesen Adoptiveltern. Sie lasen ihrer Tochter jeden Abend vor und fuhren sogar mit ihr in Urlaub. Schließlich redete ich mir selbst ein, dass es für ein Kind sehr viel besser sein muss, von einer Mittel- oder Oberschichtfamilie im Westen adoptiert zu werden, als sich mit dem Leben in einer Gesellschaft abfinden zu müssen, die so ungeheuer konkurrenzbetont ist wie unsere. Außerdem würde sie, wenn sie alt genug wäre, ohnehin zum Studium ins Ausland gehen.
Mein Mann und ich müssen kaltblütige Monster gewesen sein, dass wir das tun konnten, aber teilweise lag es auch daran, dass sich schlicht die Gelegenheit bot. Ich gab die Kleine an ein amerikanisches Ehepaar ab, und ich setzte alle Hebel in Bewegung, damit sie nicht einen einzigen Tag im Waisenhaus verbringen musste. Sie wurde direkt von zu Hause zum Hotel gebracht.«
»Haben Sie sie selbst hingebracht?« Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie sie die Übergabe ihres eigenen Babys bewerkstelligt hatten.
»Dazu wäre ich nie und nimmer imstande gewesen.« Sie schwieg eine ganze Weile. »Ich hab sie von einer Waisenhausmitarbeiterin, die mich nicht kannte, aus einem kleinen Restaurant abholen lassen. Die Frau dachte, ich hätte das Kind gefunden. Ich bat sie, von der Übergabe an die Adoptiveltern eine Videoaufnahme zu machen. Sie waren ein freundlich aussehendes amerikanisches Ehepaar mittleren Alters. Als sie meine Tochter in die Arme schlossen, kamen ihnen sogar die Tränen. Meine Tochter schien ihre Gefühle zu begreifen, denn sie tätschelte das Gesicht der Frau mit ihrem kleinen Händchen und lächelte sie an, worauf die Frau nur noch mehr weinen musste. Dann gingen sie ins Hotel, und die Tür
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