Wolkentöchter
Jahre kam, wollte sie ihr Wissen und ihre Erfahrung an die jüngere Generation weitergeben. Sie ermunterte deshalb die Grüne Mary und eine weitere junge Frau, ihre Erlebnisse aufzuzeichnen und dann selbst in der Praxis zu nutzen. Doch dann verließ die junge Frau das Land mit einem Spanier, der gekommen war, um ein Baby zu adoptieren, und die Rote Mary wurde versetzt, weshalb das Projekt nie zum Abschluss kam.
Immerhin hatte die Grüne Mary so die Grundlagen der Waisenhausleitung gelernt, und sie war intelligent genug, um diese Kenntnisse in ihrer Arbeit umzusetzen. Die Folge war, dass sie noch vor ihrem vierzigsten Geburtstag in eine leitende Stellung befördert wurde. Und sie war es auch, die mir etwas überaus Merkwürdiges und seltsam Ergreifendes erzählte – eine moralische Geschichte für unsere von Arbeit besessene Zeit, eine Geschichte, die mich einige meiner eigenen Gewissheiten hinterfragen ließ.
Da sie mittlerweile Staatsbeamtin war, konnten wir uns nicht in ihrem Büro unterhalten und trafen uns stattdessen in dem vegetarischen Restaurant Pure Lotus, einem Lokal, das von buddhistischen Mönchen betrieben wurde. Begleitet von buddhistischen Gesängen, die im Hintergrund liefen, suchten wir uns ein ruhiges Eckchen.
Ich erklärte der Grünen Mary, warum ich das Gespräch mit ihr gesucht hatte: Ich arbeitete an einem Buch über chinesische Frauen, die ihre Babys weggegeben haben, damit Kinder, die von Westlern adoptiert worden waren, sich eine Vorstellung vom Leben ihrer leiblichen Mütter machen konnten, die sie wahrscheinlich nie kennenlernen würden.
»Es ist sehr schwierig, an Informationen über Frauen ranzukommen, die ihre Babys weggeben, und noch schwieriger ist es, diese Frauen dazu zu bringen, über ihre Gefühle zu sprechen«, sagte sie, während sie sich sittsam auf einem der weichen Sofas niederließ.
»Da haben Sie vollkommen recht«, sagte ich. Seit ich Ende der 1980 er angefangen hatte, Livesendungen im Radio zu moderieren, hatte ich alles Mögliche versucht, um Menschen dazu zu bringen, sich im Gespräch mir gegenüber zu öffnen. Es war schwer, und ich hatte keine großen Fortschritte gemacht, aber ich gab die Hoffnung nicht auf. Ich hatte zig Methoden ausprobiert, um eine bessere Zuhörerin zu werden, damit ich mitbekam, was die Menschen in Wirklichkeit sagten.
Die Grüne Mary sah, dass ich nach unten auf meinen Fingernagel schaute. »Der einzelne rote Nagel«, sagte sie unvermittelt, auf meinen Finger deutend, »hat der was damit zu tun, wie man richtig zuhört?«
Wieder hatte sie recht. Und ich erzählte ihr von der roten Paprika und dem Kern in meinem Gesicht.
Sie blickte nachdenklich. »Aber Sie gehören zu den wenigen, die wirklich zuhören wollen, wenn Frauen über ihre Gefühle reden«, sagte sie leise. »Und hinzu kommt, dass Chinesen strikt trennen zwischen Gefühlen, über die man gern mit anderen spricht, und solchen, die man sein ganzes Leben lang für sich behält.«
Ich schwieg. Natürlich hatte sie nicht unrecht, aber die Belastung, zu viele Dinge für sich zu behalten, konnte krank machen. Die Selbstmordrate unter Chinesinnen war hoch – und viele dieser Frauen waren gerade wegen der Gefühle, die sie für sich behalten hatten, zu diesem verzweifelten Schritt getrieben worden.
Als ich nichts erwiderte, stellte die Grüne Mary mir eine weitere eindringliche Frage: »Haben Sie, abgesehen von Ihrer Arbeit als Schriftstellerin, noch andere persönliche Gründe, diese Mütter verstehen zu wollen?« Die Frau hatte wirklich äußerst sensible Antennen …
Ich antwortete, ohne zu zögern, und erzählte ihr einen Teil meiner eigenen Geschichte: »Ich bin eine Tochter, ich habe Mutter und Vater, aber meine Eltern und die übrige Familie haben mich nie wirklich geliebt, deshalb hab ich immer gedacht, meine Mutter wäre in Wahrheit meine Stiefmutter, wie im Märchen. Als ich älter wurde, habe ich das sogar überprüft und feststellen müssen, dass es meine richtigen Eltern waren. Bis heute verstehe ich nicht, warum sie mich so weit fort zu meiner Großmutter mütterlicherseits geschickt haben, als ich gerade erst einen Monat alt war. Sie wollten sich ganz der Revolution widmen, aber haben sie das ernsthaft für wichtiger gehalten als ihre eigene Tochter? Während der Kulturrevolution landete unsere vierköpfige Familie zwangsweise in drei verschiedenen Internierungs- oder Arbeitslagern. Mein kleiner Bruder und ich wurden verachtet und gedemütigt, aber unsere Eltern
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