Wolkentöchter
haben uns noch kein einziges Mal gefragt, wie wir diese Erfahrung verkraftet haben. Wir waren gerade mal zweieinhalb beziehungsweise sieben Jahre alt.
Als ich dann anfing zu arbeiten und vor allem, als ich selbst Mutter wurde, wollte ich erst recht wissen, was meine Eltern wirklich für mich, ihre Tochter, empfanden. Sie schienen sich immer nur für meine Karriere und meinen Erfolg zu interessieren. Ich weiß, meine Generation führt ein völlig anderes Leben als ihre, aber im Traum möchte ich noch immer nur das kleine Mädchen meiner Mutter sein, möchte sie umarmen und von ihr umarmt werden. Ich weiß, ich bin jetzt eine erwachsene Frau, aber sie ist und bleibt meine Mutter, und ich kann einfach nicht aufhören, sie zu vermissen.«
Plötzlich brachen alle Gefühle, die ich in Worte hatte fassen wollen, aus mir heraus, und meine Emotionen überwältigten mich.
Die Grüne Mary saß gegen die Armstütze des Sofas gelehnt und blickte mich an. Sie hatte ihr »offizielles« Gebaren abgelegt, und der Ausdruck in ihren Augen verriet mir, dass da ganz tiefe Gefühle darauf warteten, an die Oberfläche gelassen zu werden.
Wir schwiegen beide eine Weile. Sie rang offensichtlich mit der Entscheidung, ob sie mir gegenüber offen sein sollte oder nicht. Ich fragte mich, ob sie vielleicht schon zu lange Staatsbeamtin war und es ihr deshalb in Fleisch und Blut übergegangen war, ihre Gefühle zu verstecken.
Da ich ahnte, dass es ihr vorläufig lieber wäre, das Gespräch nicht auf ihre eigenen Gefühle zu bringen, sprach ich weiter: »Wenn Sie meine Mutter wären, was würden Sie mir antworten? Würden Sie es auf die Zeiten schieben, in denen wir damals lebten, wie das alle machen? Sind es denn wirklich die ›Zeiten‹, die unser Verhalten bestimmen? Diese Zeiten sind schließlich die Geschichte von Menschen … Ich weiß, es gibt viele unterschiedliche Antworten darauf, weil jeder Mensch anders ist, aber ich möchte, dass meine Mutter mir antwortet, als Mutter …«
»Tja, genau das wünscht sich wahrscheinlich auch meine eigene Tochter von mir«, sagte sie eher zu sich selbst als zu mir.
»Sie arbeiten doch bestimmt nicht so viel, dass Sie keine Zeit für sie erübrigen können?«
Unter der arbeitenden Bevölkerung Chinas, ganz gleich auf welcher Ebene, kam es leider viel zu häufig vor, dass Eltern ihre Kinder vernachlässigten. Trotz der von oben verordneten Ein-Kind-Politik bestand das Leben für die meisten Kinder entweder aus Schule oder Hausaufgaben. Der Tochter eine Geschichte vorlesen? Keine Zeit! Dem Sohn etwas zu essen machen? Keine Zeit! Mit ihr oder mit ihm irgendwas spielen? Auch dafür keine Zeit. Alle waren viel zu sehr damit beschäftigt, Geld zu verdienen, um schon frühzeitig für das Studium und die Hochzeit des Kindes etwas beiseitelegen zu können.
»Ich habe sie weggegeben.« Diese vier Worte, die sie ganz leise aussprach, trafen mich wie ein Schlag.
»Sie haben sie weggegeben? Sie meinen, weil Sie unverheiratet waren?« Ich verstand das nicht. Wieso sollte eine Frau wie sie, mit Hochschulabschluss und einem guten Gehalt, ihre eigene Tochter weggeben müssen?
»Nein, das war nicht der Grund. Ich habe das mit meinem Mann besprochen, und wir waren uns einig.« Sie redete leise, stockend, die Augen auf die Teetasse vor ihr auf dem Tisch gerichtet.
»Sie meinen, Sie und Ihr Mann haben Ihre Tochter zur Adoption freigegeben? Wie viele Kinder haben Sie denn bekommen?«
»Nur das eine.«
»Nur die eine Tochter? Haben Sie es getan, weil sie ein Mädchen war?«
»Nein, das war auch nicht der Grund.«
»Aber dann …« Ich war konsterniert.
»Nach unserer Heirat hatte ich eine Reihe von Fehlgeburten, und als ich endlich ein gesundes Baby zur Welt brachte, war ich schon zweiundvierzig. Wir haben die Kleine vergöttert. Meine Eltern und die meines Mannes waren tot, also mussten wir ein Kindermädchen für sie einstellen. Aber die
a-yis
vom Land haben keine Ahnung, und mir waren schon zu viele Beinahekatastrophen zu Ohren gekommen, zum Beispiel von einer
a-yi,
die ein kleines Mädchen in die Waschmaschine gesteckt hat, oder einer, die ein zwei- oder dreijähriges Kind hinter dem Auto herlaufen ließ, und wieder einer, die einem Baby Schweineschmalz zu essen gab. Ein Malheur nach dem anderen. Sie wissen schon. Aber was hätten wir sonst machen sollen?
Tagsüber waren mein Mann und ich ganz krank vor Sorgen, und abends kümmerten wir uns selbst um die Kleine. Mein Mann war über fünfzig. Er konnte
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