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Wolkentöchter

Wolkentöchter

Titel: Wolkentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xinran
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festen Zeiten. Mein Vater ist krank zu Hause, und ich muss mich um ihn kümmern. Bei dieser Arbeit kann ich kommen und gehen, wie ich will, und die Bezahlung ist nicht schlecht.«
    »Wohnst du weit weg?«
    »Nicht weit.« Sie zeigte auf eine Ansammlung von Behausungen am Flussufer.
    »Nimmst du mich mit zu dir nach Hause? Ich bezahl dich auch dafür, genauso viel, wie du fürs Lastentragen bekommen würdest«, sagte ich und zückte mein Portemonnaie.
    »Versuchen Sie nicht, mich übers Ohr zu hauen! Hier im Ort und in der ganzen Gegend kennt mich jeder«, warnte sie mich.
    »Ich will dich nicht übers Ohr hauen. Ich möchte nur gern sehen, wie du mit deiner Familie lebst. Ich bin beim Radio, ich habe eine eigene Sendung.«
    »Wirklich? Wir hören hier öfter Radiosendungen über Lautsprecher auf der Straße. Aber es passiert so viel. Wie soll ich da wissen, dass Sie mich nicht übers Ohr hauen?«
    »Weißt du was? Ich zeig dir meinen Presseausweis.«
    »Ich kann nicht lesen, ich kann nur ein bisschen rechnen«, sagte sie, ohne auch nur einen Blick auf den Ausweis in meiner Hand zu werfen.
    »Gut, mal überlegen … Dann geb ich dir fünfzig Yuan vorab. (Fünfzig Yuan in den 1990 ern entsprachen 2009 etwa zweiundfünfzig Euro.) Nimm sie, und ich geb dir auch noch meine Uhr als Pfand. Wenn ich dich übers Ohr haue, kannst du sie kaputt machen.« Ich löste das Armband meiner Uhr.
    »Das wär aber ein Jammer. Ich kann sie nicht nehmen. Wenn ich sie kaputt mache, kann ich sie Ihnen nicht bezahlen. Keine Sorge, ich glaub Ihnen. Das ist mehr Geld, als ich in einer Woche verdiene.«
    Auf dem Weg zu ihr nach Hause erzählte sie mir, dass sie Ye’r hieß, was »Blatt« bedeutet. Ihre Mutter hatte kurz vor ihrem Tod zu ihr gesagt, sie sei ein Mädchen »ohne Wurzeln«, weil die Familie sie gekauft habe. Am Jangtse florierte nicht nur der Transport von Passagieren und Gütern – es gab auch einen regen Handel mit Diebesgut und mit Menschen. Die Flusspolizei hatte bei weitem nicht genug Personal und Boote, um die kriminellen Machenschaften zu unterbinden. Außerdem waren viele Polizisten selbst darin verwickelt. Laut Ye’r machten die Einheimischen keinen Unterschied zwischen Polizei und Menschenhändlern. In ihrer Stadt war praktisch jeder in irgendeiner Bande, und die Mitglieder halfen und schützten sich gegenseitig. Außenseiter blieben draußen, und wenn doch mal einer auftauchte, wurde er »erledigt«. Ich war überrascht, ein so junges Mädchen mit so reifer Klarsicht über ihre Mitmenschen sprechen zu hören.
    Das Haus, in dem Ye’r wohnte, lag etwas außerhalb des Ortes am Flussufer. Es war eigentlich kein Haus, sondern bloß eine strohgedeckte Hütte. Drinnen lag jemand im Tiefschlaf auf einem Holzbrett, die Beine übersät mit Fliegen. Ye’r ging hinein und verscheuchte sie leise. Der Mann reagierte nicht, und sie kam wieder heraus und bedeutete mir, dass ich zum Wasser gehen und mich auf den Bootssteg aus Holzpfählen setzen sollte.
    Ye’r blickte nach hinten in die Hütte: »Ich glaube, er macht’s nicht mehr lange. Seine Beine sind ganz verfault.«
    »Warum bringst du ihn nicht ins Krankenhaus?«, fragte ich.
    »Das will er nicht. Er sagt, er will keinen Arzt. In der Stadt ist ein sehr netter Doktor, der ihm helfen wollte, aber er lässt ihn nicht«, sagte Ye’r knapp.
    »Warum nicht?«
    »Er sagt, das ist die Strafe, die er verdient hat.« Ye’r presste die Lippen aufeinander.
    »Wieso Strafe?« fragte ich. Das Leben war wirklich voller Überraschungen – man wusste nie, was als Nächstes kam.
    »Meine Mutter und mein Vater haben beide auf einem Boot gearbeitet, am Flussufer Müll gesammelt und Leute und Waren befördert. Sie haben mich als Baby gestohlen, das hat er mir erzählt, nachdem er krank geworden war. Bevor meine Mutter starb, hat sie gesagt, ich wäre gekauft worden, aber mein Vater sagt, sie hat nie die Wahrheit gesagt, bis zu ihrem Tod nicht, und dass sie deshalb ein Wassergeist geworden ist.«
    »Und hat er dir erzählt, wer deine leiblichen Eltern waren?« Ich musste an die schattenhaften Gestalten von Mutter und Tochter denken, denen ich zwölf Jahre zuvor begegnet war, und an den kleinen Stein, den sie mir gegeben hatten. Auf diese Reise hatte ich ihn nicht mitgenommen.
    »Ja, vor sechs Monaten hat er mir alles erzählt«, antwortete sie wie nebenbei.
    »Und? Hast du versucht, deine leiblichen Eltern zu finden?« Ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie ihren Zorn hatte zügeln

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