Wolkentöchter
denn da ins Wasser?«, fragte ich die kleinen Hände, die sich im Mondlicht bewegten.
»Essen in Bambusrohren. Sie sagt, die Fische werden es fressen, und dann wird meine Schwester das Gleiche essen wie wir.«
»Wo ist deine Schwester hin?«
»Sie ist entführt worden«, sagte das Kind knapp, als verstünde es nicht richtig, was das bedeutet.
Ich war entsetzt.
»Entführt«, wiederholte die Schattengestalt gewichtig. »Ich hatte sie nur einen Moment am Ufer allein gelassen. Aber ich kam zu spät, um sie zu retten. Ich hab mit eigenen Augen gesehen, wie zwei Männer sie packten, mit ihr zum Boot rannten und davonfuhren. Ah, warum bin ich bloß zu spät gekommen?«
»Menschenhändler?«, fragte ich.
»Die greifen sich oft Mädchen und verkaufen sie, das weiß ich«, sagte sie. Die Mädchen wurden an Bauern und Fischer flussabwärts verkauft, um für sie zu arbeiten und später ihre Ehefrauen zu werden. »An dem Tag war es sehr windig, und der Fluss war aufgewühlt. Ich dachte, sie würden es nicht schaffen anzulegen. Welche Sünde! Meine arme Kleine, mit gerade mal sechs Monaten hat sie ihre Mutter verloren. Sie ist jetzt sieben. Bestimmt ist sie schon oben auf dem Berg und hackt Feuerholz. Ich wüsste so gern, ob sie genug zu essen bekommt.« Die Stimme des Schattens war voller Trauer.
Was sie sagte, ließ mich frösteln. Damals wusste ich noch nicht, wie es ist, selbst Mutter zu sein, aber der Schmerz in der Stimme der Frau hat mich noch jahrelang verfolgt.
Am nächsten Tag, kurz bevor unser Dampfer ablegen sollte, machten wir noch ein paar Fotos vom Sonnenaufgang über dem Flussufer, als ein kleines Mädchen von fünf oder sechs Jahren auf mich zugesprungen kam. Sie streckte mir die offene Hand entgegen, auf der ein milchig weißer, bohnenförmiger Kieselstein lag. »Meine Mama sagt, wenn Sie meine große Schwester sehen, sollen Sie ihr den bitte geben, damit sie nicht hungern muss.«
Als wir ablegten, sah ich das Kind an der Hand einer Frau, die unter dem Berg Feuerholz, den sie schleppte, fast nicht zu sehen war. Die beiden standen nebeneinander, die Frau noch immer mit ihrer Bürde auf dem Rücken, und schauten unserem Dampfer nach, der langsam hinter einer Landspitze verschwand. Als ich den allerletzten Blick auf die beiden warf, schien die Kleine noch immer zu winken. Ich betrachtete den Kieselstein in meiner Hand und musste an ihre Worte denken: Meine Mama sagt, wenn meine große Schwester den bekommt, muss sie nicht mehr hungern.
Konnte man Kieselsteine essen? Natürlich meinte die Mutter etwas anderes damit. Wahrscheinlich vermisste sie ihre Tochter so furchtbar, dass sie ihr einfach nur irgendetwas zukommen lassen wollte, wo immer sie auch sein mochte. Sie glaubte, wenn ihre Tochter diesen Kieselstein hatte, würde sie ihre Mutter nicht mehr so sehr vermissen. Aber wer war ihre Tochter, und wo war sie jetzt?
Mein getrocknetes Blatt hingegen stammte aus der Stadt Jiujiang am Unterlauf des Jangtse, und ich bekam es erst einige Jahre später, 1996 , als ich beruflich nach Jiujiang musste. Ich stand am Flussufer und sah ein junges Mädchen von etwa vierzehn oder fünfzehn Jahren, das schwankend einen schweren Korb mit kleinen getöpferten Vögeln die Straße entlangtrug. Ich folgte ihr und überlegte, ob ich ihr irgendwie helfen sollte, obwohl ich, ehrlich gesagt, nicht wusste, wie. Ich wollte jedenfalls nicht, dass von ihren Tonvögelchen welche zu Bruch gingen. Erst als sie einmal stehen blieb, um zu verschnaufen, wurde mir klar, wie zierlich sie war. Dann trat eine Frau zu ihr und gab ihr ein paar Münzen, und das Mädchen stellte den Korb ab.
Interessiert fragte ich: »Wo gehst du hin?«
»Zur nächsten Arbeit«, sagte sie, ohne mich anzusehen, und schob ihr Geld sorgsam durch einen Schlitz im Halsausschnitt ihrer Jacke.
»Was für eine Arbeit?«, wollte ich wissen.
Nun sah sie mich an und sagte ernst: »Sachen tragen. Warum fragen Sie das? Ich lebe hier, meine Familie auch.«
»Gehst du zur Schule? Du siehst nicht aus, als wärst du schon sechzehn.« Ich musterte sie prüfend.
»Ich bin fünfzehn. Zwei Jahre bin ich zur Schule gegangen, dann konnten wir uns das nicht mehr leisten«, sagte sie mürrisch und machte sich mit raschen Schritten Richtung Fluss auf den Weg.
Da ich noch jede Menge Zeit hatte, beschloss ich, mich weiter mit dem Mädchen zu unterhalten.
»Könntest du denn nichts anderes machen? Diese Schlepperei ist doch Männerarbeit.«
»Ansonsten gibt es nur Arbeit mit
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