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Wolkentöchter

Wolkentöchter

Titel: Wolkentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xinran
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können.
    »Was hätte mein Vater dann ohne mich gemacht? Wer hätte sich um ihn gekümmert?« Ye’r sah mich fragend an.
    Ihre Güte rührte mich. »Meinst du, du wirst nach ihnen suchen, wenn er gestorben ist?«
    »Ich würde gerne, aber wird meine Mutter mich denn erkennen? Es werden so viele Kinder gestohlen, wie soll ich je herausfinden, wer ich bin?«
    »Frag deinen Vater doch noch mal! Bestimmt kann er dir ein paar Einzelheiten erzählen, mit denen du deine leibliche Mutter davon überzeugen kannst, dass du ihre Tochter bist«, sagte ich aufmunternd.
    »Mein Vater hat gemeint, sie ist wahrscheinlich gestorben.« Ye’r blickte zu Boden.
    »Wie kommt er darauf?« Ich neigte meinen Kopf zu ihr.
    Ye’r schaute auf den Fluss hinaus. »Er hat gesagt, bevor ich gestohlen wurde, war meine Mutter meilenweit als die Schönheit vom Oberlauf des Jangtse bekannt, aber vor ein paar Jahren hat irgendwer sie ihm gezeigt, und er hat sie kaum wiedererkannt, so alt hat sie ausgesehen.«
    »Weißt du, warum?«, fragte ich, obwohl ich meinte, die Antwort zu kennen.
    »Mein Vater hat gesagt, das lag wahrscheinlich an der Sünde, die sie ihr angetan haben.« Sie wandte den Kopf und sah mich an.
    »Denkst du, sie hat ihr Baby vermisst?« Wieder fiel mir die Schattenfrau ein.
    »Ich weiß nicht.« Sie wirkte unsicher.
    »Und du hast wirklich nie daran gedacht, sie zu suchen?«
    »Als ich klein war, wusste ich doch gar nichts davon«, verteidigte sich Ye’r. »Ich hab es erst vor sechs Monaten erfahren, als er krank wurde. Er hat es mir erzählt, weil er Angst hatte, ich würde auch als Wassergeist enden.«
    »Hasst du deine Eltern jetzt?« Sie musste sie doch wohl hassen, dachte ich.
    »Wieso sollte ich?«, lautete die Antwort.
    »Na, weil sie dich deiner leiblichen Mutter weggenommen haben, warum sonst?«
    Zu meiner Überraschung sagte Ye’r ernst: »Nein, ich hasse sie nicht. Ich wusste nichts von meiner leiblichen Mutter, und jetzt weiß ich zwar von ihr, aber ich habe keine Ahnung, wie sie ist. Außerdem haben meine Eltern mich nie geschlagen, und hier in der Gegend gibt es keine Familie, in der die Töchter nicht geschlagen und beschimpft werden. Aber meine Eltern haben das nie gemacht.«
    Ehe ich mich an diesem Tag von Ye’r verabschiedete, nahm ich die Hälfte des restlichen Geldes, das ich bei mir hatte, und gab Ye’r noch mal fünfundzwanzig Yuan. Sie wollte es nicht annehmen, sagte, Geld fürs Nichtstun zu nehmen sei wie stehlen. Schließlich konnte ich sie überreden, es anzunehmen, indem ich sagte, sie solle es behalten und später damit die Bootsfahrt bezahlen, um ihre leibliche Mutter zu finden.
    Ich verbrachte die Nacht an Bord des Dampfers, der in der kleinen Stadt angelegt hatte, aber ich konnte nicht schlafen. Ich dachte an Ye’r, das Mädchen, dessen »Eltern« das Verbrechen begangen hatten, sie zu entführen, und sie dann doch so gütig behandelten.
    Am nächsten Tag kam Ye’r, um Lebewohl zu sagen. Sie drückte mir ein kleines Päckchen in die Hand, das in ein Blatt eingewickelt war. Als ich es öffnete, fand ich darin ein kleineres grüngelbes Blatt. »Ich besitze gar nichts«, sagte sie. »Aber falls Sie flussaufwärts fahren und meine leibliche Mutter sehen, geben Sie ihr doch bitte das Blatt, und das wird sie wieder schön machen.«
    Ich war sprachlos. Ich dachte an den Kieselstein und die Schattenmutter, die mir auftragen ließ: Bitte geben Sie ihr den, damit sie keinen Hunger mehr hat! Ich wünschte, ich hätte den Stein bei mir gehabt. Jetzt wollte Ye’r mir ein Blatt für die Mutter mitgeben, die sie doch nie gesehen hatte, damit sie wieder schön würde. Wieso dachten alle, ich würde ihren Angehörigen begegnen? War es einfach nur Zufall? Oder war der Geist des Flusses in mich gefahren?
    Danach habe ich den Kieselstein und das Blatt oft dicht nebeneinandergelegt, weil ich irgendwie das Gefühl hatte, so könnte die Mutter ihre Tochter umarmen.
    Und das war auch der Grund, warum ich den Kieselstein und das Blatt mit in den Koffer packte, als ich China verließ, obwohl ich nicht genau hätte sagen können, wieso ich es nicht über mich brachte, sie zurückzulassen. Als ich mit der Arbeit an
Verborgene Stimmen
begann, hatte ich das Gefühl, den ersten Schritt zu tun, um eine Antwort darauf zu finden. Und später dann, 2004 , als ich The Mothers’ Bridge of Love gründete, wusste ich, dass ich sie gefunden hatte: Dieser Kieselstein und dieses Blatt symbolisieren die Millionen Mütter, die ihre

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