Wolkentöchter
warf immer mehr ins Meer. Monate und Jahre vergingen, und eines Tages kam ein Seeschwalbenmännchen des Wegs. Es staunte – was machte der andere Vogel da? Aber als es Jingweis Geschichte hörte, rührte es ihre hartnäckige Beharrlichkeit. Die beiden heirateten und brüteten ein Nest schöner Jungvögel aus – die Männchen wurden so wie ihr Seeschwalbenvater, und die Weibchen wurden wie ihre Mutter Jingwei. Gemeinsam mit ihr widmeten sie sich der unendlichen Aufgabe, Kieselsteine und Zweige zu sammeln, um das Meer aufzufüllen.
Chinesen bewundern Jingwei sehr für ihre Selbstlosigkeit, ihre bedingungslose Entschlossenheit und ihr kühnes Ziel. Tao Yuanming, der Dichter der Jin-Dynastie, rühmte den tapferen Kampf des kleinen Vogels gegen die Wellen des Ozeans in Versform, und Jingweis Geschichte ist zum Symbol für großen Idealismus und mühevolle Hingabe geworden.
Die Hochachtung der einfachen Leute für Jingwei zeigt sich auch in zahlreichen Denkmälern mit Namen wie »Jingwei schwört dem Wasser Rache« oder »Jingwei füllt das Meer auf«, die an der gesamten Ostküste Chinas zu finden sind.
Ich fragte den Fischer, der neben mir am Feuer saß: »Wer ist das da hinten?«
»Das ist eine Verrückte. Sie kommt jeden Abend her, um ihre Tochter zu füttern«, antwortete er beiläufig.
Ich verstand ihn nicht, dachte aber an Jingwei. Die silhouettenhafte Gestalt war wirklich nicht weit weg, und meine Begleiter spielten mit den Dorfbewohnern »Fischköpfe«. (Wenn die Fischer ihren Fang an die großen Boote verkaufen, behalten sie die Fischköpfe und spielen verschiedene Spiele mit ihnen: So spießen sie die Köpfe beispielsweise auf je einem Essstäbchen oder Stock auf und warten dann ab, welcher zuerst umkippt. Oder sie befestigen einen Fischkopf an irgendeinem länglichen Gegenstand und lassen ihn kreiseln. Derjenige, auf den das Maul zeigt, wenn der Kopf zum Stillstand kommt, muss ein Lied singen oder irgendeine witzige Aufgabe erfüllen oder etwas Alkoholisches trinken. Die Spiele variieren je nach Region.) Ich nützte die Gelegenheit, stand leise auf und ging zu der Frau.
Die Silhouette hörte mich kommen und sagte, ohne sich umzudrehen: »Ich bin nicht verrückt. Ich komme her, um meine Tochter zu sehen.« Offensichtlich hatte sie meine Frage und die Antwort des Fischers mitgehört. Sie sprach ein sehr viel besseres Putonghua als die anderen Einheimischen.
»Wo ist denn Ihre Tochter?«, fragte ich und schaute mich um. Ich sah niemanden.
»Im Fluss.« Sie blickte mich noch immer nicht an.
Ihre Antwort weckte in mir den Verdacht, dass sie vielleicht wirklich verrückt war.
»Mama sagt, der Fluss hat meine große Schwester mitgenommen«, meldete sich eine kleine Stimme vom Arm der Mutter.
Ich trat langsam näher. Im fahlen Mondlicht war es schwer, die Gestalten deutlich zu erkennen. Ich wollte die beiden nicht stören, also setzte ich mich einfach neben sie. Falls meine Begleiter am Feuer nach mir suchen, können sie bestimmt meine Silhouette neben der der Frau sehen, dachte ich mir.
»Mama, kann ich meine große Schwester sehen?« Eine kleine Hand erschien und deutete auf den Fluss im Mondlicht.
»Ja, wenn du groß bist, kannst du auf einem Boot hinausfahren und sie sehen«, antwortete die Schattenmutter.
»Kommst du dann mit?« Die Hand verschwand wieder.
»Ja, vorausgesetzt, ich bin dann nicht schon zu alt dafür.« Die Schattenmutter drückte ihr Kind an sich.
»Aber warum fährst du nicht jetzt hinaus und suchst sie?«, fragte ein Köpfchen, das sich in die Höhe reckte.
»Mama muss sich um deine Großeltern kümmern. Was würden die beiden denn ohne uns machen, wenn wir weggehen würden?« Der Schatten schmiegte den Kopf an den des Kindes.
»Koch ihnen doch ganz, ganz viele Bambusrohre, dann haben sie genug zu essen.« Die kleinen Hände tätschelten den Kopf des Schattens.
»Es ist zu warm, sie würden schlecht werden und anfangen zu stinken.« Der Schatten drückte einen Kuss auf den Kopf des Kindes.
»Dann fahren wir eben im Winter.« Wieder zeigte das Händchen auf den Fluss.
»Wenn wir im Winter nicht Feuerholz hacken und Gemüse pflanzen, was sollen die Großeltern dann essen?«
»Aber wir finden meine Schwester doch nie, wenn wir einfach nur jeden Tag hier sitzen.« Das Kind beugte sich zur Seite und nahm das Gesicht der Mutter in beide Hände.
Die Schattenmutter sagte nichts und warf etwas, das aussah wie ein Bambusessensrohr, in den Fluss.
»Was wirft deine Mama
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