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Wolkentöchter

Wolkentöchter

Titel: Wolkentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Xinran
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diejenigen, die es sich leisten konnten, Öl und frisches Gemüse dazu, während die Ärmsten winzige Fische oder Krabben untermischten, die sie tagsüber gefangen hatten und die zu klein waren, um sie zu verkaufen.
    Moderne Lebensgewohnheiten waren den Menschen dort noch völlig unbekannt: Das Abendessen wurde stets von der ganzen Familie gemeinsam eingenommen und bildete die wichtigste gesellschaftliche Einrichtung. Da sich nur selten Fremde dorthin verirrten, waren sie jedes Mal eine Sensation, und dann versammelte sich das ganze Dorf, Alt und Jung gleichermaßen, am Kochfeuer, um mit den Besuchern zu reden, zu lachen und zu essen. Das Trinkgeld, das die so freundlich bewirteten Gäste dann zurückließen, stellte die Haupteinnahmequelle dieser Leute dar.
    Ich erinnere mich an einen Abend, als wir soeben die Geisterstadt von Fengdu besichtigt hatten und der Dampfer an einer kleinen Mole vertäut lag. Man hatte uns mit sanfter Gewalt überredet, zu einem Bambusrohressen in das nahe gelegene Fischerdorf zu kommen. Die Flammen des flackernden Feuers spiegelten sich in den trägen Wellen des Wassers und sahen mal aus wie Sterne, mal wie ein Strom aus Licht oder eine Schar schelmischer Kobolde, die zum Spielen einluden. Es war ein märchenhafter Ort, und die Umrisse der fernen Berge boten einen geheimnisvollen Hintergrund aus samtiger Finsternis. Die Luft war durchdrungen vom Duft der Bambusblätter und dem Geruch von Fischen. Als Städterin hatte ich noch nie eine solche Nacht erlebt. Ich saß da und nahm nach und nach die Ruhe meiner Umgebung in mich auf.
    Ich schaute zu den dunklen Konturen der Berge hinüber und bemerkte plötzlich eine schlanke Gestalt, die auf einem Felsen saß, der in den Fluss hineinragte. Die Gestalt bewegte sich, als werfe sie irgendetwas ins Wasser. Was mochte das sein? Ein Geist, eine Fee? Unwillkürlich musste ich an die bewegende chinesische Geschichte von Jingwei denken, die versucht, das Meer mit Zweigen und Kieselsteinen zu füllen.
     
    Der Sonnengott liebte seine Tochter Nüwa, die so schön war, dass sogar der Gelbe Kaiser sie über alles rühmte.
    Wenn der Sonnengott nicht zu Hause war, spielte Nüwa allein für sich. Aber ihr sehnlichster Wunsch war es, dass ihr Vater sie einmal mit auf seine Reisen zum Östlichen Meer nahm, wo die Sonne aufging. Der Sonnengott war jedoch tagaus, tagein damit beschäftigt, den Lauf der Sonne zu lenken, von ihrem Aufgang am Morgen bis zu ihrem Untergang am Abend, und er hatte einfach keine Zeit, seine Tochter mitzunehmen. Eines Tages folgte Nüwa ihm heimlich in einem Ruderboot, doch unseligerweise zog ein Sturm auf, und turmhohe Wellen brachten das kleine Boot zum Kentern. Nüwa wurde von dem grausamen Meer verschlungen und kehrte nie wieder zurück. Ihr Vater war untröstlich. Er konnte die Strahlen der Sonne nicht bündeln, damit sie seine Tochter beschienen und wieder zum Leben erweckten, und so blieb er allein zurück und trauerte um sie.
    Doch dann wurde Nüwa als Vogel mit gestreiftem Kopf, roten Krallen und weißem Schnabel wiedergeboren. Sie erhielt den Namen Jingwei, nach ihren klagenden Rufen »jingwei, jingwei …«.
    Jingwei konnte dem grausamen Meer nicht verzeihen, das ihr junges Leben geraubt hatte, und schwor Rache. Sie wollte das Meer auffüllen und in festes Land verwandeln. Sie begann, mit dem Schnabel Kieselsteine zu sammeln, und flog rastlos zwischen dem Berg Fajiu, auf dem sie lebte, und dem Östlichen Meer hin und her. Wieder und wieder, ohne Unterlass, stets mit einem Kieselstein oder einem Zweig im Schnabel. Sie kreiste über dem aufgewühlten Wasser, stieß ihre Klagerufe aus und ließ dann ihre jeweilige Last fallen.
    Das Meer bäumte sich auf und donnerte, verhöhnte ihre Anstrengungen. »Kleiner Vogel«, sagte es, »gib auf! Du könntest dich Millionen Jahre abmühen und würdest mich doch nie in flaches Land verwandeln.« Aber Jingwei antwortete aus der Luft: »Und wenn ich zehn Millionen oder hundert Millionen Jahre brauche, bis ans Ende der Welt, ich werde dich auffüllen und in trockenes Land verwandeln.«
    »Warum hasst du mich so sehr?«, fragte das Meer.
    »Weil du mir mein junges Leben gestohlen hast und noch vielen anderen unschuldigen jungen Menschen dasselbe antun wirst. Ich werde weitermachen, bis ich meine Arbeit vollendet habe.«
    Und damit schwang sie sich wieder auf, rief »jingwei, jingwei« und flog zurück zum Berg Fajiu, um Kieselsteine und Zweige zu sammeln. Unermüdlich flog sie hin und her und

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