Wolkentöchter
einhandeln.«
Ich versuchte es mit einer anderen Taktik und fragte: »Wohin muss ich mich denn wenden, wenn ich die Kleine offiziell in Pflege nehmen möchte?«
»Wie gesagt, so was haben wir hier noch nicht erlebt. Sie sind wirklich die Erste, die auf so eine Idee gekommen ist. Wir können Ihnen nicht helfen.«
Mir war klar, dass die Stationsschwester wie so viele mittlere Führungskräfte in China niemals auf eigene Faust eine Entscheidung treffen würde. Sie gab lediglich Anweisungen von oben nach unten weiter, eine Funktionärin, kein menschliches Wesen. Also wandte ich mich an jemanden, der im Krankenhaus einen wichtigeren Posten bekleidete als sie und noch dazu ein alter Bekannter von mir war. Der Mann machte einen klugen Vorschlag: Ich sollte Kleiner Schnee jetzt mit nach Hause nehmen, solange sie noch als Patientin in den Krankenhausakten geführt wurde. In wenigen Monaten würde das Neujahrsfest gefeiert, und die Richtlinien könnten gelockert werden. Wenn es so weit wäre, würden wir weitersehen.
Und so wurde Kleiner Schnee meine Tochter. Mein Sohn Panpan war anderthalb Jahre alt und begann gerade zu laufen und zu sprechen. Er konnte die Worte
Mama
und
Meimei,
»kleine Schwester«, schlecht unterscheiden, und wenn Kleiner Schnee weinte, wollte er sie so beruhigen, wie ich ihn immer beruhigte, und sagte: »Mama, meimei, mama, meimei.« Unsere damalige
a-yi
war eine schöne junge Frau, und da Kleiner Schnee von Tag zu Tag hübscher wurde, war es nicht verwunderlich, dass Gerüchte aufkamen, die Kleine sei die uneheliche Tochter unserer
a-yi.
Dank guten Essens und liebevoller Pflege entwickelte sich Kleiner Schnee schnell zu einem drallen, gesunden, munteren Baby, das ganz schön schwer war, wenn man es auf dem Arm trug. Fast drei Monate vergingen, und das Neujahrsfest kam. Alle, die uns besuchten, um uns ein frohes neues Jahr zu wünschen, waren ganz bezaubert von dem glücklichen Lächeln meiner lebhaften Tochter.
Ich war damals extrem naiv. Ich glaubte ernsthaft, es könnte mir mit List und Tücke gelingen, Kleiner Schnee zu adoptieren, ich würde schon Lücken in den Richtlinien finden, die von Tag zu Tag strenger wurden. Ich wähnte mich von Menschen umgeben, die mir helfen wollten, um Kleiner Schnee eine richtige Familie zu bieten. Wie sehr ich mich täuschte! Gleich nach dem Neujahrsfest kam der Leiter des Radiosenders zu mir, um unter vier Augen mit mir zu sprechen. Er riet mir, Kleiner Schnee abzugeben. Kurz darauf mahnte mich die Personalabteilung, wenn ich nicht bald handelte, würde nicht nur mir gekündigt, sondern auch dem Leiter, weil ich gegen die Ein-Kind-Politik verstoßen hatte. Das war in etwa so, als würde man einem Kollegen seine Reisschale wegnehmen, denn damals lief das nahezu militärische Rationierungssystem über den Arbeitsplatz, und wer seinen Arbeitsplatz verlor, hatte kaum Chancen, einen neuen zu finden. Er durfte nicht mal Land bewirtschaften.
Mir blieb keine andere Wahl, als nachzugeben und zumindest nach außen hin zuzustimmen. Ich zögerte die Dinge so lange hinaus, wie ich konnte, gab vor, erst noch Xue’rs Sachen und ihre Krankenakten zusammensuchen zu müssen. Ich betete, hoffte auf ein Wunder, dass meine Kleine irgendwie in Vergessenheit geraten würde. Aber die Beamten von der Familienplanung waren unnachgiebig, und keine zwei Wochen später kam der Leiter des Senders erneut zu mir und überreichte mir eine Abmahnung, in der mir Disziplinarmaßnahmen angedroht wurden. Der Verstoß würde für den Rest meines Lebens in meiner Personalakte bleiben.
»Xinran«, sagte er finster, »wenn Sie sich von dem Baby nicht trennen wollen, ist das Ihre Sache. Aber falls Sie entlassen werden, haben wir anderen die Folgen mitzutragen. Wenn ich Glück habe, werde ich nur degradiert. Familienplanung und Ein-Kind-Politik liegen im nationalen Interesse, sind also keine kommunalen Richtlinien, die flexibel gehandhabt werden können. Ich hoffe sehr, dass Sie nicht nur an sich denken, sondern auch mal an uns andere, die von Ihrer Entscheidung mitbetroffen sein werden …«
Da wusste ich, dass mir wirklich keine Wahl blieb. Nicht nur, weil mein Chef und Freund mitbetroffen wäre und weil ich meine Arbeit verlieren würde, sondern auch, weil ich nicht länger in der Lage wäre, für die Grundbedürfnisse meiner Kinder zu sorgen. Außerdem würde Kleiner Schnee für den Rest ihres Lebens als »illegal« gelten. Das wäre ihr gegenüber nicht fair.
Sobald mir klar war, dass ich mich
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