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Wollmann widersetzt sich: Roman (German Edition)

Wollmann widersetzt sich: Roman (German Edition)

Titel: Wollmann widersetzt sich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Beldt
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dirigierte mitunter ganz gerne. Es gab mir das Gefühl, wenigstens in meiner Fantasie eine gewisse Macht über andere auszuüben. Gleich neben unserem Schlafzimmer hatte ich mir ein eigenes Zimmer eingerichtet, das als Ausweichquartier gedacht war, falls es in unserer Ehe einmal zu einer Krise kommen sollte. Bis dahin hatte es jedoch nicht mal gekriselt, was mir jetzt wie ein böses Omen erschien. Hatten sich meine Eltern nicht immer wieder gestritten, ohne dass ihre Ehe dabei ernstlich in Gefahr geraten wäre? War es denkbar, dass meine Ehe mit Jutta abrupt endete, nur weil wir uns nie in die Haare geraten waren?
    Da ich mein Zimmer ausschließlich zum Dirigieren aufsuchte, hatte ich mir mit der Einrichtung keine große Mühe gegeben. Es ähnelte mehr einer Studentenbude. Für kurze Zeit diente es auch als Hobbyraum. Das heißt, ich hatte die Idee , den Bau von Buddelschiffen zu meinem Hobby zu machen, war aber über den Kauf von Bastelanleitungen und einem Buddelschiff namens Alexander von Humboldt nie hinausgekommen. Es fehlte mir schlicht die Geduld für diese kleinteilige Arbeit. Stattdessen entdeckte ich das Dirigieren für mich. Seit frühester Jugend zog ich klassische Musik jeder Art von Popmusik vor, was mir in der Schule schnell den Ruf eines Sonderlings eintrug. Nur weil ich lieber Brahms hörte und Motörhead für eine gängige Kleidermarke für Motorradfahrer hielt, wurde ich von meinen Klassenkameraden gemieden und durfte an ihren außerschulischen Aktivitäten nicht teilnehmen.
    Das gesamte klassische Repertoire hatte ich bereits runterdirigiert. Beethoven, Mozart, Brahms. Zuletzt entdeckte ich die ausschweifenden Mahler-Sinfonien für mich. Die Zweite unter Abbado konnte ich praktisch im Schlaf dirigieren. Ich legte die CD ein, stellte mich mit erhobenen Armen ans Fenster und wartete auf meinen Einsatz.
    An diesem Tag war ich jedoch etwas unkonzentriert. Erst verpasste ich meinen Einsatz, verdirigierte mich an entscheidenden Stellen, blickte auffordernd zu den Bläsern, während ein leises Geigensolo anstand, und blickte immer wieder aus dem Fenster. Das Zimmer lag zur Straßenseite. Gegenüber befand sich der bereits erwähnte Wohnblock aus den sechziger Jahren, den ich wegen seiner Hässlichkeit stets ignoriert hatte. Und dort, auf einem der Balkone im ersten Stock, entdeckte ich ein kleines Mädchen, das in einer Hängematte lag und mit einem Fernrohr die Umgebung absuchte.
    Ich erschrak so heftig, dass ich mein Dirigat sofort abbrach und Deckung neben dem Fenster suchte.
    Bei näherem Hinsehen erkannte ich eine Art Holzverschlag, aus dem eine Fahnenstange bis weit über die Balkonbrüstung ragte. Die Fahne mit Totenkopfmotiv flatterte fröhlich im Wind.
    Ich war empört. War so eine Piratenbehausung auf dem Balkon überhaupt rechtens? Hatte das Mädchen denn gar keine Eltern?
    Alles, was auf der anderen Straßenseite lag, war mir so fern wie die Milchstraße. Deshalb war ich umso schockierter, was für Verhältnisse dort offensichtlich herrschten.
    Womöglich hatte mich das Mädchen schon über einen längeren Zeitraum beim Dirigieren beobachtet und sich dabei über meine Grimassen amüsiert. Dabei hatte ich keine Ahnung, über was sich Mädchen im Alter von acht oder neun Jahren amüsierten. Ich selbst war früher häufig Opfer von Demütigungen meiner Mitschüler geworden. Schon damals konnte ich Unordnung nur schwer ertragen und räumte in den Pausen regelmäßig nicht nur meinen Platz, sondern gleich das ganze Klassenzimmer auf, rückte Stühle an die Tische und entfernte Papierschnipsel vom Boden. Doch irgendwer musste mich dabei beobachtet haben, denn als ich eines Tages in die Klasse kam, war der gesamte Raum mit Papierschnipseln übersät. Obwohl ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, kamen mir schließlich die Tränen, worauf alle in lautes Gelächter ausbrachen.
    Ich fühlte mich von dem Mädchen ertappt, und das ärgerte mich, denn schließlich gab es kein Gesetz, das einem erwachsenen Mann verbot, in seinem eigenen Haus Sinfonien zu dirigieren.
    Einen Augenblick überlegte ich, ob hier möglicherweise ein erstes Problem auftauchte, das durch strenges Nachdenken zu einem schwerwiegenden, vielleicht sogar unlösbaren Problem ausgebaut werden konnte. Leider fiel mir nicht mehr dazu ein, außer dass ich nicht vorhatte, mich weiter vor diesem Kind lächerlich zu machen.
    Was sollte ich tun? Im Dunkeln dirigieren? Oder nur noch unten im Wohnzimmer? Zur Probe dirigierte ich einmal vor

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