Wollmann widersetzt sich: Roman (German Edition)
fast erschrocken über meine unterschwellige Aggression.
»Ich möchte nur gerne von dir wissen, ob dir hier im Raum irgendetwas aufgefallen ist.«
Jutta blickte sich kurz um. »Mir fällt nichts auf.«
»Aber du hast ja noch gar nicht richtig gekuckt!« Es ärgerte mich, dass sich meine Frau selbst in einer für mich so wichtigen Frage keine größere Mühe gab.
Sie sah sich noch einmal um. Ihr Blick schweifte gedankenverloren über die Möbel, und als sie mich schließlich mit demselben gedankenverlorenen Blick ansah, wurde mir zum ersten Mal klar, dass sie sich für meine Arbeit im Grunde nie interessiert hatte. Ich war nur eine Art Hausmeister, dem es erlaubt wurde, ihr Leben zu teilen. Dafür wurde ich großzügig entlohnt und durfte meinen Tag frei gestalten. Wenn ich darüber nachdachte, war der Ruck nach der Eheschließung vielleicht nur deshalb ausgeblieben, weil sich unsere Leben nie wirklich berührt hatten.
»Verrätst du mir jetzt bitte, was es ist?«, drängte sie mich. Sie wollte den Fall offensichtlich rasch zu den Akten legen.
Ich sah zur Gemüsepfanne und schüttelte trotzig den Kopf. Mir gefiel meine unerwartete Trotzköpfigkeit. In Zukunft würde ich öfter einmal nichts sagen und einfach nur trotzig den Kopf schütteln.
»Dann eben nicht«, sagte sie genervt und aß stumm ihren Teller leer.
Ich lächelte, und dabei fühlte ich eine tiefe Genugtuung.
An einem Vormittag war das Mädchen plötzlich verschwunden. Ich war erst spät zu meinem Beobachtungsposten gekommen, weil Jutta für einige Tage nach Brüssel musste und ihr Flug gegen Mittag ging. Ursprünglich hatte ich sogar mitreisen sollen. Ein eigens zur Konferenz organisiertes Damenprogramm für mitgereiste Ehepartner hätte eine Stadtrundfahrt und die Besichtigung einer Pralinenmanufaktur beinhaltet. Obwohl ich schwankte – die Manufaktur hätte ich natürlich gerne besichtigt – , sagte ich schließlich aus »Zeitgründen« ab. Ich könne aber doch frei über meine Zeit verfügen, hatte mich Jutta noch zu einer Mitfahrt ermuntert, und ich hatte dagegengehalten, dies sei ein Missverständnis, dem große Teile der Bevölkerung unterlagen, die nicht unter dem Zwang zur freien Gestaltung ihres Tagesablaufs standen, was Jutta für einen Moment tatsächlich zu denken gab.
Aber das Mädchen ließ mir keine Ruhe.
Den ganzen Tag wartete ich auf ihre Rückkehr. Als sie auch am frühen Abend nicht wieder aufgetaucht war, beschloss ich, nach ihr zu suchen. Ich befürchtete das Schlimmste. Gab es nicht genügend Fälle verschwundener Kinder, die Opfer von Gewalttaten geworden waren?
Zunächst ging ich hinüber zu dem Wohnblock. Auf dem Klingelschild standen zwölf Namen. Ich war erstaunt, wie viele Menschen hier wohnten. Natürlich war es sinnlos, nur auf Verdacht irgendwo zu klingeln. Außerdem wollte ich keinen falschen Eindruck erwecken. Ein übergewichtiger, mittelalter Mann auf der Suche nach einem kleinen Mädchen. Ich musste aufpassen, nicht in die falsche Ecke geschoben zu werden.
Ich lief durch die Straßen. Block für Block suchte ich nach ihr ab. Überall standen herrschaftliche Villen mit gepflegten Vorgärten. Es waren kaum Menschen zu sehen. Niemand, der es sich auf den vornehmen Anwesen gemütlich machte. Kalt und abweisend wie Mausoleen erschienen mir diese Häuser. Häufig standen nicht mal Namen an den Klingelschildern, als wohnte hier nur der Reichtum. Ich war überrascht, welche Gedanken mir kamen. Was war das? Alterssozialismus?
Ich fragte mich, ob auch hier irgendwo frustrierte Männer in ihren Zimmern dirigierten.
Es dämmerte bereits, als ich erschöpft den Supermarkt am Roseneck erreichte. Da nichts zu essen im Haus war, ging ich prompt hinein. Juttas Abwesenheit beflügelte meine Fantasie. Die Vorstellung, heimlich eine Fertigpizza zu essen, ja zu verschlingen, begeisterte mich. Ich wollte endlich mal über die Stränge schlagen und den Abend mit Pizza und ausreichend Bier verbringen, ohne mir etwas vorwerfen lassen zu müssen. Allerdings wusste ich nicht, ob mir Jutta überhaupt etwas vorgeworfen hätte. Das stimmte mich nachdenklich.
Während ich durch die Gänge streifte, geschah das, womit ich an diesem Tag nicht mehr gerechnet hatte: Wenige Meter vor mir entdeckte ich das Piratenmädchen! Es stand am Regal mit den Süßigkeiten und ließ gerade mehrere Tafeln Schokolade in ihrem Umhängebeutel verschwinden.
Ich war entsetzt. Offensichtlich hatte es vor, die Ware zu klauen.
Sollte ich das Mädchen zu
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