Wollmann widersetzt sich: Roman (German Edition)
Pergamentpapier und einen Füllfederhalter mit schwarzer Tinte und überlegte mir geheimnisvolle Beschreibungen, die Zoe bis in die Stadtmitte führen sollten, wo ich plante, einige Goldtaler aus Schokolade zu verstecken. Statt Schienen schrieb ich »wo das Dampfross seinen Weg findet«, statt Admiralspalast »wo der Admiral seinen Palast hat«, statt Gendarmenmarkt »wo der Marktplatz von Glockengeläut eingerahmt wird« und statt Konzerthaus »wo die Musik ihr Haus hat«. Mit einem Feuerzeug verkohlte ich noch die Ränder, rollte die Schatzkarte zusammen und verschnürte sie mit einem roten Band.
Als ich am frühen Nachmittag fertig war, merkte ich erst, dass ich mich weder gewaschen noch angezogen hatte. Die Schatzkarte hatte mich so in Beschlag genommen, dass ich darüber alles vergessen hatte. Ich konnte mich nicht entsinnen, irgendetwas anderes jemals mit einer ähnlichen Hingabe getan zu haben. Selbst die Arbeit im Garten kam mir jetzt nur wie ein hübscher Zeitvertreib vor, mit dem ich meinem überaus angenehmen Leben den passenden Rahmen gab. Bis zu diesem Moment war mir Hingabe vollkommen fremd gewesen. Ich wollte nichts von mir hergeben, weil ich befürchtete, es nie oder anders wieder zurückzubekommen. Aus diesem Grund verlieh ich auch keine Bücher mehr. Als Jugendlicher hatte ich einmal einen Roman mit sexuell eindeutigen Szenen an einen Klassenkameraden ausgeliehen. Ich hoffte, mein Ansehen in der Klasse dadurch ein wenig zu steigern. Für kurze Zeit schien mein Plan tatsächlich aufzugehen. Als Leihgeber pornographischer Literatur – das »Werk« hatte zu meinem Entsetzen inzwischen die Runde gemacht – gewann ich sogar die Achtung eines weithin bekannten Rüpels, der mir in der Pause eine Zigarette anbot, weil er annahm, es wären noch weitere Bücher dieses Genres in meinem Besitz. Eingehüllt in Zigarettenqualm ließ ich durchblicken, Zugang zur umfangreichen pornographischen Sammlung meines Vaters zu besitzen. Mein Vater besaß jedoch weder pornographische noch sonstige Literatur, und als ich schließlich unmissverständlich aufgefordert wurde, weitere Sexbücher herauszurücken, musste ich passen. Daraufhin erlosch mein Ansehen praktisch in derselben Sekunde. Als ich mein Buch endlich zurückbekam, sah es aus, als hätten es Dutzende gierige Jungshände auf der Suche nach Sexszenen zerfleddert. Noch auf dem Schulhof warf ich es in den Mülleimer.
Auch Theater- und Opernaufführungen mied ich, wenn immer es möglich war. Ich hatte ständig Sorge, der Mörder könnte aus seiner Rolle hinterher nicht wieder herausfinden. Im Fernsehen bevorzugte ich seichte Komödien, die keinerlei emotionale Beteiligung von mir verlangten.
Und nun stand ich am frühen Nachmittag im Schlafanzug in meinem Zimmer und fühlte mich von mir selber überrumpelt.
Ich hatte Hunger. Da ich zum Frühstück nur ein halbes Brötchen gegessen hatte, lief ich runter in die Küche und sah in den Kühlschrank. Bis auf ein Bund Möhren, Äpfel und einige Joghurtbecher war er leer. Ich sehnte mich aber nach einem fetten Stück Fleisch oder wenigstens einer großen Portion Nudeln. In einem Vorratsschrank hatte ich für den Notfall immer ein paar Konserven parat. Und dies war ein Notfall. Im Schrank fiel mein Blick sofort auf eine Dose Ravioli. Ich öffnete die Dose und schlang die Ravioli noch im Stehen hinunter. Danach genehmigte ich mir eine halbe Schachtel Pralinen, die ich, anstatt wieder hinter den Mülleimer, gut sichtbar neben den Brotkasten legte. Als ich gesättigt durchs Wohnzimmer ging und mein Geburtstagsgeschenk an Jutta, eine teure, mit schwarzen Vogelfedern beklebte Lampe auf der Kommode sah, musste ich plötzlich laut lachen.
Im Schlafzimmer brauchte ich keine fünf Minuten, um mich anzuziehen. Ich fragte mich, wieso es früher so lange gedauert hatte. Was hatte ich all die Jahre in diesem Haus getrieben? Meine einstige Zufriedenheit erschien mir auf einmal als heimliches Eingeständnis meines Scheiterns. Weil ich es im Leben nicht weit gebracht hatte, hatte ich mich einfach ins Privatleben zurückgezogen.
Für solche Gedanken hatte ich jetzt allerdings keine Zeit mehr. Ich nahm die Schatzkarte, holte das Bund Möhren aus dem Kühlschrank und verließ das Haus Richtung Piratenhauptquartier.
Zwei Häuserblocks weiter traf ich auf Frau Wüstner, was mir relativ ungelegen kam, denn Frau Wüstner hatte die Eigenschaft, mich in ausufernde Gespräche zu verwickeln. Frau Wüstner kannte ich lediglich von einem
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