Wollmann widersetzt sich: Roman (German Edition)
der, der ich immer gewesen war.
Doch wer war ich überhaupt? Lange hatte ich versucht, diese Frage zu umgehen, indem ich mich einfach treiben ließ und in den Tag hineinlebte, als hoffte ich insgeheim, dass mir die Konfrontation mit mir selbst erspart bleiben würde. Bis zu dem Tag, als Jutta mich fragte, ob mir mein häusliches Leben eigentlich reichte, war ich nur ein Mann, der gerne Blumen dekorierte.
Doch plötzlich wusste ich nicht mehr weiter. Es war wie in jener Geschichte vom Tausendfüßler, der gefragt wurde, wie er es denn schaffe, mit den vielen Beinen zu laufen, worauf er keinen Schritt mehr tun konnte. Plötzlich schien alles um mich herum in tausend unverständliche Einzelteile zu zerfallen, als wäre Juttas Frage wie eine Bombe in meinem Leben explodiert. Und ich hatte keine Ahnung, ob es überhaupt noch einen Sinn ergab, diese Einzelteile wieder zu meinem alten Leben zusammenzufügen, oder ob ich lieber etwas ganz anderes anfangen sollte. Was dies wieder sein konnte, war mir jedoch vollkommen schleierhaft. Sollte ich mir einen neuen Job suchen, nur um Jutta zu beweisen, dass ich draußen in der Welt ebenso bestehen konnte wie Gunnar? Je mehr ich an Gunnar dachte – und ich dachte eigentlich ständig an ihn –, desto belastender wurde meine Situation. Immerhin hatte ich zunehmend Spaß an meinem Piratenleben. Einen Moment überlegte ich sogar, in die Hütte zu ziehen und einfach abzuwarten, bis sich die Verhältnisse von selber geklärt hatten. So lange hier sitzen zu bleiben, bis niemand mehr etwas von mir verlangte. Doch gleichzeitig liebte ich meine Frau, und ich konnte das Gefühl nicht verdrängen, in ihren Augen kein vollwertiger Mann zu sein, der Herausforderungen scheute und Probleme nur vom Hörensagen kannte. Ich wollte keinesfalls enden wie der Mann von Frau Wüstner, die froh war, wenn ihr Gatte am Wochenende mit der Carrera-Bahn spielte.
Als ich am späten Nachmittag nach Hause kam, hatte ich wieder Hunger. Die ungewohnte Bewegung, vielleicht auch der psychische Stress schienen die Kalorien viel schneller zu verbrennen als sonst. Erneut plünderte ich den Vorratsschrank. Diesmal bekam ich eine serbische Bohnensuppe zu fassen und trank sie gleich aus der Dose. Dass ich dabei mein T-Shirt bekleckerte, störte mich nicht im Geringsten. Ja, ich behielt das T-Shirt aus Protest sogar an und freute mich diebisch auf die Reaktion von Jutta. Wogegen ich protestierte, war mir zwar nicht hundertprozentig klar, ich wusste nur, dass irgendetwas passieren musste. Deshalb strich ich auch gleich noch das Abendessen und war gespannt, ob meine Frau dies so ohne weiteres hinnehmen würde.
Ich entkorkte eine Flasche Rotwein, legte mich aufs Sofa und schaltete den Fernseher ein.
Zur Tagesschau war ich bereits so betrunken, dass ich nicht gemerkt hatte, wie Jutta nach Hause gekommen war. Sie saß auf der anderen Sofaseite und blickte müde zum Fernseher. Ihr Mund war freudlos durchs Gesicht gezogen und unterstrich ihre Erschöpfung. Ich raffte mich mühsam auf, setzte mich halbwegs gerade hin und wartete auf irgendeine Reaktion. Da auch bis zum Wetterbericht keine erwähnenswerte Reaktion von ihr gekommen war – nur einmal hatte sie sich kurz geräuspert, was ich allerdings nicht überinterpretieren wollte – , beschloss ich zu handeln.
»Und«, sagte ich mit hörbar schwerer Zunge, »hast du heute einen schönen Tag gehabt?« Ich drückte die Brust raus, damit sie mein bekleckertes T-Shirt besser sehen konnte.
»Geht so«, erwiderte sie und sah mich just in dem Moment an, als ich wieder in mich zusammensackte.
»Das ist doch super«, rief ich maßlos übertreibend und drückte meine Brust gleich noch einmal heraus, während sich Jutta wieder zum Fernseher wandte.
Ich überlegte, ob ich ihr die Sache mit dem T-Shirt besser erzählen sollte.
»Und du?«, fragte sie, ohne ihren Blick vom Apparat abzuwenden.
»Ich habe Frau Wüstner auf der Straße getroffen!«, sagte ich, als handelte es sich um ein außerordentliches Ereignis, das ich Jutta auf keinen Fall vorenthalten wollte.
»Ach?« Sie blickte mich an. Ich wollte die Brust gerade rausdrücken, da hatte sie ihren Kopf schon wieder weggedreht.
»Stell dir vor, ihr Mann hat seit kurzem eine Carrera-Bahn.«
Sie wandte sich erneut zu mir. Ich sparte mir indes die Brust und konzentrierte mich auf meine Resthaltung.
»Dann ist er doch wenigstens beschäftigt«, meinte Jutta vollkommen ernst.
Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, was sie
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