Wollmann widersetzt sich: Roman (German Edition)
Urnengang anlässlich der Volksabstimmung zur Offenlegung der städtischen Wasserverträge. Ich nahm grundsätzlich an allen Wahlen und Volksabstimmungen teil, um mir später nicht vorwerfen lassen zu müssen, ich hätte eine politische Entwicklung durch mein Desinteresse begünstigt.
»Herr Wollmann!«, rief Frau Wüstner schon von weitem bedrückend fröhlich. Sie war etwa in meinem Alter, wirkte in ihrer gouvernantenhaften Kleidung jedoch erheblich älter. Ich bemühte mich, gehetzt auszusehen, was Frau Wüstner allerdings gar nicht zu beeindrucken schien. Vielleicht hatte ich im Gehetztsein auch einfach keine ausreichende Erfahrung, jedenfalls steuerte sie wie eine Dampflok direkt auf mich zu, sodass ich keine Chance mehr hatte, ihr auszuweichen.
»Ist das nicht wieder ein Wetterchen?«, begann sie ihren Monolog wie üblich mit einer kurzen Zusammenfassung der Wetterlage. »Wetterchen« war in ihrer Definition ein wolkenloses Dauerhoch, alles andere wurde unter »Wetter« verbucht.
»So einen Sommer kann man sich doch gefallen lassen«.
»Frau Wüstner … «
»Und da sagen die Leute immer, in Deutschland würde es nur regnen.«
»Ich habe jetzt leider gar keine … «
»Die sollen doch ruhig alle nach Mallorca fahren, wir bleiben hier, nicht Herr Wollmann?«
»Im Augenblick ist es wirklich … «
»Sie haben keine Zeit? Was ist denn mit Ihnen los? Sie haben doch immer Zeit für ein Pläuschchen.« Sie blickte erstaunt an mir herab.
Ich ärgerte mich jetzt, dass ich ihr, sooft wir uns auf der Straße trafen, stets den Eindruck vermittelt hatte, nichts weiter zu tun zu haben. In gewisser Weise stimmte das zwar, aber inzwischen war mir längst klar geworden, dass Leute mit Zeit im Ansehen etwa auf der gleichen Stufe wie Kinder oder Hartz- IV -Empfänger standen.
»Ausgerechnet heute habe ich einen wichtigen Termin«, gelang es mir endlich, den Satz zu vollenden.
»Und wo wollen Sie mit den Karotten hin?« Frau Wüstners direkte Art hatte immer etwas Erfrischendes gehabt. Jetzt störte sie mich auf einmal.
»Zu einem Kaninchen«, sagte ich geradeheraus.
»Sie haben einen wichtigen Termin mit einem Kaninchen?«
Ich nickte. »Tiere haben ja auch ihren Rhythmus.«
Frau Wüstner schien mit dieser Erklärung jedoch keineswegs einverstanden zu sein.
»Auf eine halbe Stunde kommt es bei so einem Tier ja nicht an.« Sie bemerkte die Pergamentrolle. Offenbar glaubte sie, dass ich ihr die entscheidende Information verweigerte. Ich hatte nicht vorgehabt, mein Piratengeheimnis zu lüften, fühlte mich nun aber zu einer Aussage genötigt.
»Ich muss noch eine Schatzkarte hinterlegen«, erklärte ich sachlich.
»Eine Schatzkarte hinterlegen?« Frau Wüstner wirkte schockiert.
»Im Piratenhauptquartier«, ergänzte ich unnötigerweise. Aus unerfindlichen Gründen neigte ich dazu, mir anvertraute Geheimnisse nach und nach der Öffentlichkeit preiszugeben, als erhoffte ich mir dadurch irgendeine Form der Anerkennung. Ich verabscheute mich dafür, konnte aber nichts dagegen unternehmen.
»Sie wollen mich auf den Arm nehmen.«
Ich schüttelte ernst den Kopf.
Offensichtlich überlegte sie, wie sie den Fall einordnen sollte, ohne mich gleich für verrückt erklären zu müssen.
»Mein Mann hat sich vor kurzem ja auch eine Carrera-Bahn gekauft, dann ist er am Wochenende wenigstens beschäftigt.«
Anscheinend glaubte sie, dass Männer sofort auf Abwege gerieten, wenn sie einmal nichts zu tun hatten.
»Ich muss jetzt aber wirklich los«, sagte ich.
»Ach ja, das Kaninchen. Nichts für ungut.« Sie musterte mich noch einmal und verabschiedete sich dann mit einem knappen Lächeln.
Die Hütte war nicht abgeschlossen. Nachdem ich geklopft hatte und keine Antwort erhielt, trat ich ein. Ich hatte lediglich vorgehabt, die Schatzkarte abzuliefern und die Möhren zum Kaninchen in den Karton zu legen, setzte mich dann aber doch auf die Bank und blieb eine Weile dort sitzen. Während die Züge vorbeirauschten und die Hütte zum Vibrieren brachten, war ich plötzlich wieder ein kleiner Junge, der sein ganzes Leben noch vor sich hatte und vor lauter Möglichkeiten nicht wusste, was er später mal werden wollte. Das beunruhigte mich ein wenig, denn eigentlich suchte ich doch nach einer männlichen Herausforderung, um mir bei meiner Frau die nötige Anerkennung zu verschaffen. Hier drohte ein Konflikt, der mir zu diesem Zeitpunkt unlösbar erschien. Es sei denn, ich widersetzte mich all diesen Anforderungen und blieb einfach
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